Blickpunkt:Film

Festival

Heute beginnt die 70. Berlinale. Im Interview erklärt [Carlo Chatrian](/person/carlo-chatrian), der neue künstlerische Leiter, wie er seinen ersten Wettbewerb zusammengestellt hat und was ihm bei der Auswahl besonders am Herzen lag.


Was waren die für Sie größten Entdeckungen während der Sichtung der Filme für den Wettbewerb und die anderen Reihen?


CARLO CHATRIAN: Diese Frage lässt sich nicht ganz einfach beantworten. Letzten Endes war jeder Film, den wir ausgewählt haben, auf die eine oder andere Weise eine Entdeckung, eine Überraschung. Neu war für mich der Prozess, mit vielen neuen Kuratoren der einzelnen Sektionen und einem neuen Auswahlkomitee für den Wettbewerb. Das war ein spannender Lernprozess. Gerade der Dialog mit den Kuratoren der anderen Reihen war fruchtbar, weil es auch immer um einen Austausch ging und um eine Abstimmung, welcher Titel richtig für die jeweilige Reihe ist. Wir haben viele Filme gemeinsam gesehen, manche waren geeignet für den Wettbewerb, andere waren besser aufgehoben in Encounters, Panorama oder auch Generation.


Was sticht im Wettbewerb ins Auge?


CARLO CHATRIAN: Wenn man den Fokus auf den Wettbewerb legt, der natürlich nur ein kleiner Ausschnitt des Gesamtprogramms der Berlinale ist, fällt auf, dass es eine ganze Reihe von Filmen gibt, die den Blick in die Vergangenheit richten, um uns die Zeit besser verstehen zu lassen, in der wir heute leben. Hier möchte ich "DAU. Natasha" nennen oder "Irradiés" von [Rithy Panh](/person/rithy-panh). Beide spielen in der Vergangenheit, der eine durch Rekonstruktion, der andere durch altes Filmmaterial. Manchmal verbirgt sich in der Vergangenheit eine Geschichte von großer Bedeutung und Allgemeingültigkeit, wie in dem italienischen Film "Volevo nascondermi" von [Giorgio Diritti](/person/giorgio-diritti), ein eigenwilliges Biopic über einen Maler, wie er in der heutigen Zeit nicht erzählt werden könnte, weil die Welt, in der der Maler lebt, heute in dieser Form nicht mehr existiert. Oder nehmen Sie ["First Cow"](/movie/first-cow) von [Kelly Reichardt](/person/kelly-reichardt), der uns in den Wilden Westen des 19. Jahrhunderts entführt, aber eine ganz andere Geschichte erzählt, als wir es aus dem Western gewohnt sind. Hier geht es nicht um die Frontier der Abenteurer, Fallensteller und Soldaten, sondern um einfache Menschen. Diesen Filmen, von denen keiner ein Kostümfilm ist, stehen ganz aktuelle Filme entgegen, die Geschichten aus dem Hier und Jetzt erzählen: ["Effacer l'historique"](/movie/online-fuer-anfaenger), ["Never Rarely Sometimes Always"](/movie/niemals-selten-manchmal-immer) oder [Mohammad Rasoulofs](/person/mohammad-rasoulof) "Sheytan vojud nadarad".


Gibt es einen stilistischen oder thematischen roten Faden?


CARLO CHATRIAN: Nein, die Filme sind alle sehr unterschiedlich. Ich finde es auch wichtig zu sehen, dass eine Reihe von Regisseuren mit ihren neuen Werken dabei sind, die bereits in der Vergangenheit auf der Berlinale vertreten waren. Wenn man sich ihre Karrieren ansieht und von ihren Anfängen bis in die Gegenwart verfolgt, bekommt man ein Gefühl für die Entwicklung des Kinos. [Abel Ferrara](/person/abel-ferrara) ist ein gutes Beispiel. Die Filme, die er in den letzten Jahren gemacht hat, unterscheiden sich grundlegend von seinen frühen Werken, weil es ihm die neuen Technologien ermöglichen, ganz anders zu drehen und zu arbeiten, ohne festgelegte Drehbücher oder Dialogbücher. Es sind Filme, die ihre Erzählung ganz unmittelbar aus dem Leben der Menschen entwickeln. Oder [Philippe Garrel](/person/philippe-garrel), der zwar zum ersten Mal im Berlinale-Wettbewerb ist, aber natürlich schon seit mehr als 50 Jahren Filme macht. Seine jüngsten Arbeiten sind viel strukturierter als die Filme, die er zu Beginn seiner Karriere machte, Filme wie ["La cicatrice intérieure"](/movie/la-cicatrice-interieure), der vor allem ästhetisch motiviert ist. Sein neuer Film, ["Le sel des larmes"](/movie/le-sel-des-larmes) ist visuell ebenfalls vorzüglich, aber primär daran interessiert, eine nachvollziehbare Geschichte zu erzählen. Das fällt überhaupt auf: die Qualität der Bilder. Es ist auch ein Wettbewerb der vorzüglichen Kameramänner: Philippe Garrel hat mit dem legendären [Renato Berta](/person/renato-berta) gearbeitet, der für große Filmemacher wie Bellocchio, Resnais oder Malle die Bilder gesetzt hat. "Never Rarely Sometimes Always" und "Todos os mortos" wurden von der wunderbaren französischen Kamerafrau [Hélène Louvart](/person/helene-louvart) gedreht, die jüngst aufgefallen ist mit ["Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão"](/movie/die-sehnsucht-der-schwestern-gusmao) oder "Glücklich wie Lazarro". Und ["DAU"](/movie/dau) hat seine energiegeladenen Bilder dem großen deutschen Kameramann [Jürgen Jürges](/person/juergen-juerges) zu verdanken.


Wie hat sich die Auswahl für den Wettbewerb entwickelt? Wie war Ihr Prozess?


CARLO CHATRIAN: Die Auswahl vollzog sich Schritt für Schritt. Was natürlich damit zusammenhängt, dass wir die Filme erst nach und nach sehen konnten, manche wurden erst sehr spät fertig. Die Selektion war ein fließender Prozess. Für "First Cow" oder "Le sel des larmes" haben wir uns beispielsweise schon sehr früh entschieden, weil wir sie auch schon in einem frühen Stadium der Auswahl sehen konnten. Natürlich war es so, dass die Zusage für einen einzelnen Titel eine Auswirkung auf die folgende Auswahl hatte. Wir wollten uns nicht wiederholen, sondern so etwas wie ein Narrativ entwickeln. Rückblickend würde ich von einem sehr organischen Prozess sprechen. Natürlich haben wir mehr Filme diskutiert als die 18, die schließlich selektiert wurden. Manche davon fanden ihren Weg danach ins Panorama oder in Encounters, nicht weil sie weniger gut sind, sondern weil wir den Eindruck hatten, dass wir ihnen in diesen anderen Reihen besser helfen können, ihr Potenzial zu entfalten.


Gab es Filme, die Sie gerne gehabt hätten, aber nicht bekommen haben?


CARLO CHATRIAN: Was kann man über Filme erzählen, die man nicht präsentiert? Davon würde ich gerne Abstand nehmen. Grundsätzlich kann ich sagen, dass wir natürlich viele Filme auf der Liste haben, die uns interessieren würden. In den meisten Fällen war es so, dass sie einfach nicht fertig waren und wir sie deshalb gar nicht erst gesehen haben.


Sie haben zwei große deutsche Filme von namhaften deutschen Filmemachern im Wettbewerb - man ist geneigt zu sagen: nur! Warum nicht mehr?


CARLO CHATRIAN: Wir haben keine Quoten, die wir erfüllen müssten. Mir ist es wichtig, die richtigen Filme auszuwählen. Wir sind sehr stolz darauf, "[Undine](/movie/undine_0)" von [Christian Petzold](/person/christian-petzold) und "[Berlin Alexanderplatz](/movie/berlin-alexanderplatz_2)" von [Burhan Qurbani](/person/burhan-qurbani) zeigen zu können. Dazu kommt noch eine weitere deutsche Filmemacherin, [Jekaterina Oertel](/person/jekaterina-oertel), die "DAU. Natasha" zusammen mit Ilya Khrzhanovskiy gemacht hat und eigentlich als Maskenbildnerin bekannt ist. Es gibt überdies zwei deutsche Koproduktionen, Abel Ferraras ["Siberia"](/movie/siberia_5) und Mohammad Rasoulofs "Sheytan vojud nadarad". Und ["Schwesterlein"](/movie/schwesterlein) ist zwar ein Schweizer Film, aber er spielt in Berlin und hat mit [Nina Hoss](/person/nina-hoss) und [Lars Eidinger](/person/lars-eidinger) zwei deutsche Stars in den Hauptrollen. Wenn sie den Fokus öffnen und in die anderen Reihen blicken, dann werden sie viele weitere deutsche Filme finden, drei davon allein in Encounters. Aber Nationalität ist nicht entscheidend. Entscheidend sind die richtigen Filme. Was bringen sie dem Wettbewerb? Können sie auf eigenen Beinen stehen? Darauf kommt es an. Mein Team und ich sind sehr stolz auf das Line-up.


Warum haben Sie 18 Filme ausgewählt?


CARLO CHATRIAN: Ich habe zu Beginn gesagt, dass es 18 Filme im Wettbewerb sein sollen. Wenn es dann einer mehr oder weniger geworden wäre, wäre das vertretbar gewesen. Ich denke, das ist eine gute Zahl für die Jury. Und es hilft beim täglichen Programmieren des Festivals. Im Berlinale Palast werden jeden Tag drei Filme gezeigt, darunter befinden sich aber auch eine Handvoll Berlinale Special Galas, was ich sehr willkommen heiße bezüglich der Komposition der Screenings. Sie bringen eine gute und andere Farbe mit: "[Pinocchio](/movie/pinocchio_f)", "[Onward - Keine halben Sachen](/movie/onward-keine-halben-sachen)", ["Persian Lessons"](/movie/persischstunden), "Charlatan" und "Police". Das sind dann insgesamt 23 Filme im Berlinalepalast.


Immer wieder werden Sie befragt, warum Sie nur sechs Filmemacherinnen für den Wettbewerb ausgewählt haben. Ist das eine hilfreiche Debatte? Wird damit nicht auch Augenwischerei betrieben?


CARLO CHATRIAN: Ich versuche immer zu verstehen, was hinter den Fragen steckt, die man mir stellt. Wenn ich gefragt werde, wie viele Frauen im Wettbewerb der Berlinale vertreten sind, dann geht es weniger um die tatsächliche Anzahl. Vielmehr will man mich und die Öffentlichkeit darauf aufmerksam machen, dass es immer noch ein Ungleichgewicht gibt. Deshalb muss diese Frage immer wieder gestellt werden. Sie trägt dazu bei, dass das Thema virulent bleibt, bei mir, aber auch bei der Branche. Entscheidend ist, dass mehr Filme von Frauen entstehen sollen, dass sie nicht nachrangig behandelt werden dürfen. Sechs Filmemacherinnen ist eine gute Anzahl, ihre Filme sind sehr stark. Deshalb haben wir sie gewählt, aus keinem anderen Grund. Aber wir dürfen nicht nur die Geschlechterfrage beachten, wenn wir über Repräsentation sprechen. Ich bin betrübt, dass wir keinen Film vom afrikanischen Kontinent zeigen. Aber wir müssen auch ehrlich mit den Filmen sein bei der Auswahl, sonst machen wir uns unglaubwürdig. Damit ist niemand geholfen.


Wie hängen der Wettbewerb und Encounters miteinander zusammen? Stehen diese Reihen in Dialog miteinander?


CARLO CHATRIAN: Die Filme im Wettbewerb waren immer nur für den Wettbewerb im Gespräch. Gleichwohl waren die Filme in Encounters nie für eine andere Reihe gedacht. Damit will ich sagen, dass Encounters nicht das Überlaufbecken für den Wettbewerb ist. Da war ich immer sehr bestimmt. Dennoch stehen die Filme der beiden Reihen in einem Verhältnis zueinander. Nehmen wir einen Film wie "Shirley", der einzige Titel in Encounters, der keine Weltpremiere ist: Er wurde zuerst im Wettbewerb von Sundance gezeigt. Er wurde für Encounters ausgewählt, weil wir das konzeptionelle Element herausstellen wollten. Für mich spielt es in diesem Film eine noch größere Rolle als in den vorherigen Arbeiten von [Josephine Decker](/person/josephine-decker). Oder "Gunda": Dieser Dokumentarfilm von [Victor Kossakovsky](/person/victor-kossakowski) ist sehr emotional und könnte auch auf einer größeren Leinwand bestehen. Wir haben ihn in Encounters genommen, weil wir seine Einzigartigkeit betonen wollten: Er wurde ohne Schauspieler und nur mit Tieren gedreht. Gleichzeitig tritt "Gunda" in einen Dialog mit "Siberia" im Wettbewerb: Beide sind Reisen zu einer Welt, die uns sehr nahesteht, aber doch weit entfernt ist - und doch sind sie Gegenentwürfe: In "Gunda" geht es um das einfache Leben; "Siberia" erzählt von einem Dämon, versteckt in einem Mann. Oder nehmen Sie "Die letzte Stadt" von [Heinz Emigholz](/person/prof-heinz-emigholz), der in Dialog tritt mit den drei Filmen im Wettbewerb, in denen Berlin im Mittelpunkt steht. Die Idee von Geschichte in Rithy Panhs Film findet sich als Echo in dem österreichischen Film in Encounters, "The Trouble With Being Born" von [Sandra Wollner.](/person/sandra-wollner) Wie man diese Verbindungen wahrnimmt, hängt natürlich auch immer damit zusammen, wie man das Festival selbst erlebt, wie man es selbst zusammensetzt, die Montage im Kopf.


Gehen Sie so auch bei der terminlichen Zusammenstellung des Wettbewerbs vor?


CARLO CHATRIAN: Es ist eine Abstimmung, die sich über alle Bereiche des Festivals erstreckt. Ich habe für jeden Tag ein Narrativ im Kopf, bei dem die verschiedenen Reihen zusammenspielen. Ich will Überschneidungen vermeiden und eine große Geschichte gestalten. Und die Chronologie innerhalb der Reihen ist ebenfalls wichtig. Natürlich ist man nicht ganz frei dabei: Vieles hängt von den Terminplänen der Macher und Schauspieler ab, den Bedürfnissen der jeweiligen Verleiher oder Sales-Firmen; damit muss man sich als Festivalmacher auch beschäftigen.


Gibt es etwas, worauf Sie sich so kurz vor dem Start besonders freuen?


CARLO CHATRIAN: Es soll jetzt endlich losgehen! Wir haben hart gearbeitet, wir haben das Programm vorgestellt. Jetzt wünsche ich mir, dass die Filme selbst sprechen und Verbindung zum Publikum aufnehmen. Natürlich hoffe ich, dass es eine erfolgreiche Reise wird.


Das Gespräch führte Thomas Schultze

Berlinale-Chef Carlo Chatrian: "Die richtigen Filme sind entscheidend"