Blickpunkt:Film

Kino

In der Wettbewerbsreihe CineCoPro feiert [Stefan Haupts](/person/stefan-haupt) [Max-Frisch](/person/max-frisch)-Verfilmung Weltpremiere. Der Regisseur über seinen persönlichen Zugang zum Stoff und Aktualisierungen der mit [Paula Beer](/person/paula-beer) und [Albrecht Schuch](/person/albrecht-schuch) prominent besetzten Schweizer Koproduktion.

**Was hat Sie persönlich an Max Frischs "[Stiller](/movie/stiller_5)" gereizt? Und warum gerade jetzt die Verfilmung des literarischen Stoffs, der erstaunlicherweise noch keine einzige filmische Adaption erfahren hat?**

Ich habe in jungen Jahren praktisch alles von Frisch gelesen. Er war für die Schweiz und auch für mich ein sehr wichtiger Autor. Wir sind beide im selben Quartier in Zürich aufgewachsen, ich habe ihn sogar einmal persönlich kennengelernt. Nach meinem mit [Anne Walser](/person/anne-walser) von [C-FILMS](/company/c-films-ag) produzierten Film über den Reformator Huldrych Zwingli, der 2019 in der Schweiz sehr erfolgreich lief, kam Walsers Geschäftspartner [Peter Reichenbach](/person/peter-reichenbach) auf mich zu und sagte, wir sollten mehr schweizerische Literatur von internationalem Rang filmisch umsetzen. Ich habe spontan gesagt: "Stiller." Und obwohl er meinte, den gäbe es schon, wusste ich, dass das nicht stimmt. So fing alles an. Was mich an dem Roman bis heute fasziniert, sind seine Fragen nach Identität, nach Selbst- und Fremdwahrnehmung. Die sind heute so aktuell wie damals.

**Aus guten Gründen galt "Stiller" lange als schwer verfilmbar. Die Vorlage ist ein sehr innerlicher, reflexiver Text, wie haben Sie sich ihm angenähert?**

Ich hatte Glück, den Romantext als PDF zu bekommen und habe ihn dann als Erstes wie an einem Schneidetisch Zeile für Zeile reduziert. Schon früh war klar: Wir können keine wortgetreue Umsetzung machen, das wäre filmisch zu sperrig geworden. Gemeinsam mit Co-Autor Alex Buresch haben wir die Erzählstruktur verdichtet. Eine zentrale Idee war, die Hauptfigur doppelt zu besetzen: [Albrecht Schuch](/person/albrecht-schuch) als White, der Mann also, der behauptet, nicht Stiller zu sein, und [Sven Schelker](/person/sven-schelker) als der «junge» Stiller in den Rückblenden. Diese Doppelung ist unsere filmische Antwort auf die Fragen nach der Identität im Roman.

**Sie bleiben also in den 1950er Jahren, der Entstehungszeit des Romans?**

Ja, eine Modernisierung hätte zu viele narrative Probleme mit sich gebracht. Schon allein das heutige Vorhandensein von DNA-Tests oder Smartphones würden die gesamte Grundkonstellation aushebeln. Trotzdem wollten wir keine demonstrative Retroästhetik. Die 50er-Jahre sollten einfach atmosphärisch durchscheinen. Und die Farbdramaturgie spielt bewusst mit den verschiedenen Zeitebenen.

**Welche Rolle spielt der Begriff Heimat in Ihrem Film?**

Eine sehr zentrale. Frisch hat sich immer wieder mit seiner Heimat, der Schweiz, auseinandergesetzt, kritisch, aber auch liebevoll. Ich habe selber viele Filme über Zürich gemacht, meine Stadt, meinen Ort. Deshalb war es mir wichtig, reale Zürcher Schauplätze zu zeigen. Das Grossmünster, der Lindenhof, das Zürichhorn am See – das sind Orte, mit denen ich auch selber biografisch stark verbunden bin.  

**Gab es Zusammenarbeit mit dem Max-Frisch-Archiv?** 

Ja. Damit wir die Filmrechte erhielten, musste unser Drehbuch von der Max-Frisch-Stiftung und [Suhrkamp](/company/suhrkamp-verlag) genehmigt werden. Im Gremium sitzen unter anderem der Literaturwissenschaftler Thomas Strässle und der Schriftsteller Lukas Bärfuss. Wir haben konstruktive Gespräche geführt. Ich wollte nie so tun, als könnte ich Frisch verbessern. Aber ich wollte mich auch nicht sklavisch an alles halten. Zum Beispiel haben wir uns entschieden, das Nachwort im Buch, in dem Julika stirbt, wegzulassen. Uns erschien das heute nicht mehr zeitgemäß.

**Sie arbeiten häufig an der Schnittstelle von Dokumentarischem und filmischer Fiktion. Inwiefern hat ihre Arbeitsweise auch den „Stiller“ beeinflusst?**

Ich lasse mich gerne von ganz konkreten Orten, von realen Atmosphären inspirieren. Ich war selbst bei Frischs Beerdigung 1991 in der Kirche St. Peter in Zürich. Ich habe mit seiner zweiten Frau Marianne Frisch gesprochen. Ich habe das Bedürfnis, in meinen Filmen an solche Erfahrungen anzuknüpfen. Deshalb war es mir wichtig, viele Außenaufnahmen wirklich in Zürich zu drehen. Ich habe die Schauspieler durch die Stadt geführt, ihnen Orte gezeigt, an denen Frisch gelebt hat. Ich glaube, dass sich solche Eindrücke auf subtile Weise in die Atmosphäre eines Films einschreiben.

**Sie haben sich bei sensiblen Stellen im Text für Veränderungen entschieden. Zum Beispiel bei der Darstellung von Gewalt in der Beziehung zwischen Julika und Stiller.**

Im Roman gibt es zum Beispiel eine Szene, in der White Julika im Gefängnis auf die Pritsche wirft. In der ersten Drehbuchfassung wollten wir das auch zeigen, haben dann aber gemeinsam entschieden: Das geht heute schlicht nicht mehr. Man würde diese Männerfigur sofort als übergriffigen Täter lesen und sich von ihr distanzieren. Damals war das anders codiert. Im Film ist es nun so, dass Julika ihn anschreit und packt. Gleichzeitig haben wir uns entschieden, gewisse Spannungen beizubehalten. In einer Szene fragt Stiller Julika kaltherzig, ob sie denn wirklich krank sei, oder nur so tue. Aber ich finde, wir müssen auch unangenehme Aspekte in Beziehungen zeigen. Nicht alles im Leben ist ein „safe space“...

**Wie haben Sie Ihre Hauptdarsteller gefunden?**

Für unsere Produktion wollten wir namhafte Schauspieler gewinnen. Unsere Casting-Direktorin [Simone Bär](/person/simone-baer) hatte den Namen von Albrecht Schuch schon relativ früh auf ihrem Zettel. Sven Schelker, mit dem ich schon bei "Der Kreis" gearbeitet hatte, wurde als junger Stiller gecastet Es war uns wichtig, dass die beiden sich ähneln. Und mit [Paula Beer](/person/paula-beer) war sofort klar, dass die gemeinsame Chemie stimmt; sie hatte mit beiden Schauspielern bereits zusammengespielt.

**Wie verlief die Zusammenarbeit mit Sendern, Förderern und Produktionspartnern?**

Solche Projekte sind ohne starke Partner heute nicht mehr realisierbar. Das heißt aber auch, dass viele Partner mitreden. Beim Drehbuch waren wir uns rasch einig, beim Schnitt gab es Diskussionen. Ich mag es, wenn daraus etwas Drittes entsteht, nicht ein Kompromiss, sondern eine gute neue Lösung. Und so bin ich sehr zufrieden mit dem Endergebnis. Aber ja, es ist ein anderes Arbeiten als bei meinen Dokumentarfilmen, wo ich alles allein entscheiden kann, weil ich sie auch selber produziere.

**Wie politisch ist Ihr "Stiller"?**

Der Roman ist ganz klar politisch, auf eine subtile Weise. Frisch beschreibt auf kritische Weise eine Schweiz, die sich selbstzufrieden eingerichtet hat. Auch ich erinnere mich an ein sehr rigides, moralisch enges Klima in meiner Jugend. Damals wurde der Roman in Deutschland positiver aufgenommen als in der Schweiz, wo die Kritikermeinung zum Teil negativ ausfiel. Die Schweiz hat sich seither stark verändert. Man spürt im Film noch diese Kritik, aber sie ist leiser. Viel zentraler erscheint mir heute die Frage: Darf ein Mensch sich verändern? Kann er das überhaupt? Muss er sich festlegen? Wie sehr sind wir selbst für unser Bild in den Augen anderer verantwortlich? Wie sehr zwingen uns andere ein Bild von uns auf? In Zeiten von Social Media, Selfies und Datingplattformen sind das extrem aktuelle Themen.

**Hatten Sie filmische Vorbilder?**

Nicht direkt. Aber in der Vorbereitung haben mein Kameramann [Michael Hammon](/person/michael-hammon) und ich im Hinblick auf die Themen Identität und Intimität zum Beispiel "[Eine Frau unter Einfluss](/movie/eine-frau-unter-einfluss)" von [John Cassavetes](/person/john-cassavetes) nochmals zusammen angeschaut. Diese Konzentration auf Gesichter, auf emotionale Nacktheit, war inspirierend. Es gibt da die schöne Beobachtung von [István Szabó](/person/istvan-szabo), dass es auf der Leinwand keine größere Nacktheit gibt, als ein menschliches Gesicht zu sehen, das sich nicht versteckt. Dieser Gedanke schien uns auch für unser „Stiller“-Projekt verfolgenswert.

**Wie sehen Sie die Chancen für eine internationale Auswertung des Films?**

Ich hoffe natürlich, dass "Stiller" auch international wahrgenommen wird. Max Frisch ist in vielen Ländern bekannt. Unter anderem auch in den USA. Trotzdem weiß ich: Der Markt ist im Wandel. Junge Leute kennen Frisch oft gar nicht mehr. Dennoch bin ich überzeugt, dass der Film auch ohne Kenntnis des Romans funktioniert. Er erzählt eine universelle Geschichte.

**Und worauf freuen Sie sich nun beim [Filmfest München](/company/filmfest-muenchen)?**

Darauf, den Film endlich mit einem größeren Publikum zu sehen. Dass meine Familie da ist, die Darsteller, das ganze Team. Es ist ja beim Film oft so, dass man monatelang gemeinsam arbeitet und sich dann aus den Augen verliert. Ein Festival ist da eine wunderbare Gelegenheit zum Wiedersehen und gemeinsamen Feiern.


Stefan Haupt: „Ich lasse mich von realen Atmosphären inspirieren“