Blickpunkt:Film

Kino

Ende Dezember nimmt [Roger Crotti](/person/roger-crotti_5_5), bis Jahresmitte Country Manager GSA und bis zuletzt verantwortlich für den Geschäftsbereich Kino, nach 31 Jahren erfolgreicher Tätigkeit Abschied von [The Walt Disney Company](/company/the-walt-disney-company-germany_b). Blickpunkt:Film sprach mit ihm über die Bilanz des Kinojahrs, die Höhepunkte seines Berufslebens, seine Leidenschaft für den Film und die Herausforderungen für die Branche. 


**Bis Jahresende verantworten Sie noch den Geschäftsbereich Kino für The Walt Disney Company DACH. Wie läuft das letzte Jahr unter Ihrer Ägide?**

ROGER CROTTI: Wenn alles so weiterläuft bis zum Jahresende, wie wir annehmen, werden wir Marktführer bleiben. Auch wenn immer wieder gesagt wird, dass der eine oder andere Film nicht ganz so erfolgreich war, wie er vorher eingeschätzt wurde, dann ist das Ergebnis über das Jahr gesehen doch sehr beeindruckend. Fairerweise muss man sagen, dass hier noch viele Besucher von „[Avatar: The Way of Water](/movie/avatar-the-way-of-water)“ vom Jahresanfang mitgezählt werden. Wenn wir das Jahr als Marktführer abschließen, freut mich das persönlich natürlich sehr. Mit „[Wish](/movie/wish_f)“ haben wir zum Jahresabschluss wieder einen klassischen Disney-Weihnachtsfilm ins Kino gebracht. Dieser Film passt perfekt zu Weihnachten mit seinen Hoffnungen und Wünschen, und für mich ist es nach genau 31 Jahren ein Superabschluss zum Jubiläum mit 100 Jahren Disney.

**Zu Beginn des Jahres haben Sie eine Prognose für das laufende Kinojahr gewagt, nämlich 20 Mio. Besucher für die Filme von Disney und 86 Mio. für den Gesamtmarkt. Liegen Sie richtig?**

ROGER CROTTI: Wenn ich heute mit allem rechne, was noch kommt, dann ist am Schluss insgesamt ein Ergebnis zwischen 88 und 90 Mio. Besuchern möglich. Als Disney werden wir die 20 Mio. nicht ganz erreichen.

**Was trauen Sie Ihrem Weihnachtsfilm „Wish“ zu? Und warum hat zuletzt „[The Marvels](/movie/the-marvels)“ nicht funktioniert?**

ROGER CROTTI: „Wish“ war am Startwochenende die Nr. 1 in den Kinos -  trotz extremem Wetterchaos in vielen Teilen Deutschlands. Das hat uns natürlich sehr gefreut. Unsere Daten zeigen außerdem, dass dem Publikum der Film sehr gut gefällt, teilweise besser als in anderen Ländern. Wir sind daher sehr guter Dinge, dass der Film über die Weihnachtszeit sehr erfolgreich laufen wird. Und zu „The Marvels“ konnte man schon alle Analysen lesen. Ich teile die Meinung, dass generell weniger mehr ist. Von Marvel gab es in den letzten Jahren viel Content - im Kino und auf den Plattformen. Man wird sich wieder fokussieren müssen und nach allem, was ich höre und sehe, was in der Zukunft von Marvel geplant ist, bin ich sehr zuversichtlich, dass dies auch gut gelingen wird.

**War es das richtige Jahr, um Abschied zu nehmen, nach der Feier von Disney 100 und Ihren vielen Erfolgen in über 30 Jahren bei Disney?**

ROGER CROTTI: Das „richtige Jahr“ hört sich sehr gut an. Es passt jedenfalls für mich. Wenn ich zurückschaue, durfte ich sehr vieles oder fast alles erleben in meiner Disney-Karriere. Und diese 100 Jahre Disney kommen jetzt auch zu einem Ende. Ich war relativ jung, als ich bei Disney angefangen habe, war früh auch im internationalen Management und dort lange der Jüngste. Irgendwann realisiert man, dass man mehr erreicht und erlebt hat, als man sich je zu träumen gewagt hatte. Dafür bin ich dankbar und deswegen ist dieser Moment für mich genau der richtige, um aufzuhören.

**Und mit welchen Gefühlen verlassen Sie Disney?**

ROGER CROTTI: Mit einem riesigen Hochgefühl und natürlich ein bisschen Wehmut, wenn es am 1. Januar 2024 keinen Roger.Crotti@disney mehr gibt. Das ist dann von einem Tag auf den anderen vorbei. Aber weil ich diese Entscheidung schon vor Monaten getroffen habe, und wir das alles intern diskutiert haben, wusste ich, was auf mich zukommt, konnte viel mit Leuten reden und mich mit dem Thema befassen, und habe eigentlich die letzte Zeit unheimlich genossen.

**Das ist eine beachtliche Form von Pflichterfüllung, sich bis zum letzten Film oder Tag einzubringen.**

ROGER CROTTI: Wenn man mich kennt, dann weiß man, dass mich das ausmacht. Ich habe deswegen auch von meinen Kolleginnen und Kollegen immer erwartet, dass man alles gibt. Das ist mein Credo. Gemeinsam mit dem Team haben wir uns jetzt gegenseitig noch einmal richtig hochgejazzt mit „Wish“, weil wir hier an einen großen Erfolg glauben. Und das fühlt sich dann gut an.

**Was sehen Sie als Ihre persönlichen Meilensteine?**

ROGER CROTTI: Wenn ich zurückschaue, dann sehe ich viele grosse und kleine Meilensteine. Angefangen hat alles mit unserem allerersten Film „[Sister Act](/movie/sister-act)“, den wir als Buena Vista in der Schweiz gelauncht hatten. Wir haben ihn an Heiligabend nach der Mitternachtsmesse in einer Kirche in Zürich gezeigt. Es waren sogar 50 Nonnen dabei, die in ihrem Leben noch nie im Kino waren.
Meine spätere Berufung nach Deutschland und dann die Gesamtverantwortung für alle Geschäftsbereiche der Walt Disney Company in DACH zu bekommen, war sicherlich der größte Meilenstein meiner Karriere. Dazu gehörten dann auch der erfolgreiche Launch unseres Free-TV-Senders Disney Channel und die Einführung unserer Streamingplattform Disney+ mitten in der Coronapandemie aus dem Home Office. Besonders stolz macht mich aber dass wir es mit „[Star Wars - Das Erwachen der Macht](/movie/star-wars-das-erwachen-der-macht)“ und „Avatar - The Way of Water“ zweimal geschafft haben, den jeweils erfolgreichsten Film aller Zeiten im Kino zu launchen. Das war die größte Teamleistung, die man sich nur vorstellen kann. 
Aber auch meine letzte Disney Premiere „Wish“ hat mich sehr berührt: Erwachsene und Kinder mit diesen leuchtenden Augen zu sehen, das war einfach grossartig. Dieses Erlebnis, mit den Talents und den Gästen über den roten Teppich zu gehen und auf der Bühne etwas zum Film zu sagen, dann wird es dunkel im Saal und Film ab! Das hat mich immer glücklich gemacht, 

**Und was ist ihre persönliche Bilanz?**

ROGER CROTTI: Wenn ich Bilanz ziehe, kann ich sagen, dass ich schon ein wenig stolz bin, einen Teil zur Entertainment-Geschichte in der Region beigetragen zu haben. All das wäre natürlich nicht möglich gewesen ohne das grossartige Team, das ich zu jeder Zeit meiner Karriere hinter mir hatte. Ich bin nur so gut wie die Menschen, die das mit mir zusammen gemacht haben, bis heute. Was ich sehr gut kann, ist Leute zusammenzubringen und aus ihnen - vielleicht auch mit Visionen von mir - das Meiste herauszuholen.
Wenn ich für die Branche bilanzieren darf, würde ich sagen, wir haben viel zusammen erreicht und einiges ist uns leider nicht gelungen. Ich habe auch immer den Anspruch gehabt, als Branche besser zu werden, dass Kinos und Verleiher ihre Partikularinteressen ein wenig zurücknehmen. Ich wünsche mir auch für die Zukunft, dass die Player mehr miteinander als gegeneinander arbeiten, weil sie nur gemeinsam diesen Markt und diese Branche auf das nächste Level bringen können.

**Wie ist Ihrer Meinung nach Disney für die Kinozukunft gerüstet?**

ROGER CROTTI: Disney ist mit seinen Marken, mit Disney, Pixar, Marvel, Lucasfilm, 20th Century Studios oder auch Searchlight Pictures gut gerüstet. In all diesen Bereichen kommen Filme, die ein Publikum finden werden. Wenn ich mir die Topfilme der letzten neun, zehn Jahre ansehe, in denen ich das Kinogeschäft in Deutschland verantwortet habe, war es immer ein Portfolio an Filmen über alle Marken. Disney hat es geschafft, sich so aufzustellen, dass wir alle Zielgruppen bedienen können. Da mache ich mir wenig Sorgen. Ich mache mir auch wenig Sorgen ums Kino. Das heißt aber natürlich auch, dass man dran bleiben muss. Wenn sich im Frühjahr der Streik bemerkbar macht, wenn die Produkte nicht so kommen, wie sie sollten, wird es nochmal eine Durststrecke geben. Aber wir haben im laufenden Jahr gesehen, dass es immer wieder Filme gibt, die große Resonanz finden.

**Disney war unter Ihrer Ägide sechsmal Marktführer. Bleibt es bei dem starken Fokus auf das Kino, oder geht die Aufmerksamkeit stärker in eine andere Richtung?**

ROGER CROTTI: Disney war ja nicht meinetwegen Marktführer. Ich war ein Teil dieser Reise. Was wir geschafft haben, ist, aus diesen Filmen, die viel Potenzial hatten, noch ein Quäntchen extra herauszudrücken. Ob Disney auch weiter Marktführer im Kino bleibt, kann keiner vorhersehen. Mal ist es Universal, mal Warner, mal Disney. Doch wir wollten immer mit unseren Filmen im Markt die Besten sein. Das war immer unser Anspruch an Marketing & Distribution. Und natürlich wird das Kino immer ein wichtiger Teil von Disneys Geschäftsstrategie bleiben. 

**In der Zeit, in der Sie in Deutschland und für die DACH-Region Verantwortung getragen haben, musste das Kino großen Herausforderungen trotzen, ob Pandemie, Energiekrise oder Inflation. Wie steht das Kino heute da?**

ROGER CROTTI: Es gab vor, während und nach der Pandemie Kinos, die sich immer weiter entwickelt und immer investiert haben, sei es in die Infrastruktur oder das Kinoerlebnis, nicht nur in die Digitalisierung der Vorführung, sondern auch in die Kommunikation mit den Kunden. Ich glaube, der deutsche Markt ist an vielen Orten sehr gut aufgestellt. Wir reden oft über die großen Ketten, aber auf meinen Kinoreisen habe ich auch gesehen, dass es auf dem flachen Land viele, tolle kleinere Betreiber und Gruppen gibt, die wunderbares Kino machen und gut aufgestellt sind. Ich glaube, dass wir die Besucherzahlen vor Corona nicht mehr erleben werden, aber trotzdem sehr gute Zuschauerzahlen haben. Mein Eindruck ist, dass vor Corona gerade im Bildungsbürgertum viele Menschen nie gestreamt haben, und Streaming während Corona entdeckt und sich dafür begeistert haben. Sie gehen immer noch ins Kino, aber streamen jetzt auch und kommen deswegen nicht mehr so oft.

**Auch bei Disney gewinnt Streaming an Bedeutung. Mit welchen Auswirkungen?**

ROGER CROTTI: Das ist eine Entwicklung, die nicht aufzuhalten ist. Einer meiner Tiefpunkte war, als wir nach der Pandemie mit „Black Widow“ zurückkamen und 45 Prozent des deutschen Kinomarktes den Film wegen des Day-and-Date-Starts nicht gespielt haben. Diese Haltung in Deutschland war weltweit fast einmalig. Ich habe es auch mit dem Team nicht geschafft, unsere Kinopartner zu überzeugen. Dass uns das nicht gelungen ist, macht mich heute noch traurig. Wir hatten dann beim Disney-Weihnachtsfilm „[Encanto](/movie/encanto)“ ein 30-Tage-Fenster, und wieder haben uns Kinos nicht gespielt. Doch in der Zwischenzeit hat sich das geändert. In den letzten zwölf bis 18 Monaten hatten wir, glaube ich, als Studio sogar die längsten Fenster. Alle Marvel-Filme hatten dieses Jahr ein 91-Tage-Fenster, „[Little Mermaid](/movie/the-little-mermaid_6)“ hatte über 100 Tage, „[Indiana Jones und das Rad des Schicksals](/movie/indiana-jones-und-der-ruf-des-schicksals)“ kommt erst jetzt auf Disney+ und hatte 155 Tage, „Avatar 2“ sogar 200 Tage. Darüber spricht jetzt niemand mehr. Noch ein Beispiel: „[Elemental](/movie/elemental)“ ist nicht so erfolgreich wie erwartet angelaufen, zählt aber jetzt über zwei Mio. Besucher. Der zweimillionste Besucher wurde erreicht, nachdem der Film schon einen Monat auf Disney+ lief. Wir haben alle gelernt, dass die Länge des Auswertungsfensters nicht alleine ausschlaggebend ist und dass Kino und Streaming nebeneinander bestehen können. Ein Filmlaunch im Kino hat aber immer eine größere Sichtbarkeit. Kino ist das Tor zur Welt.

**Was muss das Kino tun, um sich wieder stärker zu behaupten?**

ROGER CROTTI: Das Allerwichtigste ist, dass es Kinoplayer gibt, die investieren. Die Filme wechseln, aber die Hardware, das Kino, muss einfach toll sein. Mal ist der Film besser, mal schlechter, aber wenn Sie ins Kino gehen, muss es ein Erlebnis sein. Als Kino ist man Gastgeber, wie ein Hotel oder ein Restaurant. Wenn ich auswärts essen gehe und die Bedienung ist unfreundlich, dann kann ich auch zuhause essen. Aber wenn sie nett ist, komme ich gerne wieder. Das ist im Kino auch so. Das ist ganz wichtig. 
Und natürlich wäre es auch wichtig die internationale Sichtbarkeit des deutschen Marktes  wieder zu stärken, z.B. mit einem Filmfestival das mit den anderen, großen Festivals konkurrieren kann. In diesem Zusammenhang wünsche ich mir, dass die Berlinale wieder mehr Anerkennung durch die internationalen Studios und und den damit verbundenen Hollywood-Stars bekommt. 

**Wohin geht die Reise für den Gesamtmarkt?**

ROGER CROTTI: Der digitale Markt wird sicherlich noch weiter wachsen. Wobei es auch im Digitalen und bei den Plattformen noch Konsolidierungen und Umverteilungen geben wird. Auch wenn wir im Kino wahrscheinlich nicht mehr auf die Besucherzahlen von 2019 kommen werden, sind Umsatzsteigerungen möglich, vor allem im Luxus- oder Premiumbereich. Wenn das Angebot top ist, der Service, die Sitze und das Erlebnis, dann kann man durchaus einen höheren Eintrittspreis verlangen. Aber werden wir jemals wieder auf 100 Mio. Besucher kommen? Das kann ich nicht sagen. Aber wenn wir rund 80 Mio. Besucher schaffen und das in Deutschland richtig machen, dann haben wir ein sehr solides Geschäft. 

**Wie sehen Sie die Partnerschaft von Verleih und Kino? Muss sich das Geschäftsmodel flexibilisieren?**

ROGER CROTTI: Es gibt Tendenzen, dass Kinos gerne einfach den Content hätten und dann selbst mit den Filmen verfahren, wie sie wollen. Daran glaube ich nicht. Trotzdem weiß ich, dass viele Kinoverantwortliche genau wissen, was am besten wäre, wenn der Film einmal angelaufen ist. Dieser Dialog muss noch besser werden, wie auch die Zahlentransparenz untereinander, auf Vorstellungen herunter gebrochen. Verleih und Kino sollten die Aufgaben stärker gemeinsam anpacken. Das abgelaufene Kinofest war nicht besser als das letzte. Wenn das dritte gut sein soll, muss man es jetzt im großen Stil gemeinsam angehen und das Thema ernst nehmen. 

**Und wohin geht die Reise für Sie?**

ROGER CROTTI: Ich hatte so eine tolle Reise bei Disney und konnte so lange mit so viel Engagement und Herzblut mit so großartigen Menschen arbeiten, dass ich das jetzt einfach noch nicht sagen kann.

Das Gespräch führte Ulrich Höcherl.

Roger Crotti, The Walt Disney Company: „Kino ist das Tor zur Welt“