Blickpunkt:Film

Kino

Der Autorenfilmer [Julian Radlmaier ](/person/julian-radlmaier)aus Nürneberg feierte mit der feinen Tragikomödie „Sehnsucht in Sangerhausen“ im Wettbewerb von [Locarno](/company/locarno-film-festival) Weltpremiere und stellt sie nach Zwischenstopps in Sarajewo und Busan nun als Deutschlandpremiere am 27. September beim [Filmfest Hamburg](/company/filmfest-hamburg) vor. Wir sprachen mit ihm in Locarno. [Grandfilm](/company/grandfilm) plant den bundesweiten Start in deutschen Arthousekinos am 27. November 2025.


**Sehnsucht - man denkt an deutsche Romantik - und der Ort Sangerhausen sind Thema und im Titel. Was stand am Anfang des Projekts?**

Der Ort selbst. Ich sah ein Bild der Stadt mit dieser Abraumhalde im Hintergrund und fand es interessant. Eine Abraumhalde ist sonst nicht so nah an einer Stadt, wie eine Pyramide mit magischer Anziehungskraft. Ich fuhr nach Sangerhausen und mich faszinierten unterschiedlichste Dinge. Zum einen die Geschichte der Region, von den Bauernkriegen über die Arbeiteraufstände in den 20ern bis zu den Konzentrationslagern, zum anderen die seltsamen Details, der steinerne Kopf in der Mauer, der größte Rosengarten der Welt und sein Amphitheater oder der Stinkschiefer als geologische Besonderheit. Interessant war eben auch, dass der bedeutende frühromantische Dichter Novalis in der Nähe geboren wurde. Aus diesem Sammelsurium an Eindrücken ergaben sich die Fragmente und Figuren der Geschichte, die ich miteinander verknüpfte.


**So ergab es sich, in verschiedenen Zeitebenen zu erzählen und deren gesellschaftliche Parallelen aufzuzeigen?**

Nein. Zuerst hatte ich die zeitgenössische Figur von Ursula im Kopf, die als Putzfrau und Kellnerin arbeiten muss, um über die Runden zu kommen, und die sich in eine Musikerin aus der Großstadt verliebt. Diese Begegnung weckt in ihr die Sehnsucht nach einem anderem Leben. Ich wollte aber von Anfang an auch weitere Figuren erzählen. Wie an leider so vielen Orten in Deutschland ist auch in Sangerhausen und Umgebung die AfD mittlerweile sehr stark, gleichzeitig ist Sangerhausen eine erstaunlich bunte Stadt. Ich lernte etwa Kellner aus Nordmazedonien und eine Frau aus Afghanistan kennen, die auch im Film zu sehen ist. Mich interessierte, diese gegensätzlichen Welten zusammenzubringen und unterschiedliche Perspektiven zu erzählen. 

![„Sehnsucht in Sangerhausen“. Foto: Monticola Film](https://s3.eu-central-1.amazonaws.com/zone.busch.store.image/a025ea72-e08d-49fe-978b-7eee7e636b36.jpg)

**Wie ging es weiter?**

Die historische Ebene und Novalis kamen erst später dazu, in Form von Ursulas Urururgroßmutter Lotte, die in einer ähnlichen Position wie Ursula ist, eine Magd, die den Nachttopf des Novalis leeren muss, eines Adeligen.
Meine Mutter kommt aus einer proletarischen Familie, mein Vater aus der Mittelschicht. Seine Familiengeschichte lässt sich viel länger nachverfolgen als die meiner Mutter. Solche Detail des Klassenunterschieds haben mich immer fasziniert: Ursula hat keine Ahnung, wer ihre Vorfahren sind, während die Musikerin Zulima stolz darauf ist, sehr entfernt mit Novalis verwandt zu sein. 
Es ging also darum, dem Klassenunterschied der Figuren eine historische Dimension zu geben, aber auch an vergessene Träume anzuschließen, denn Lotte schwärmt für die französische Revolution. Und ein bisschen auch darum, die romantische Tradition gewissermaßen zu demokratisieren.


**Zu ihrem Cast gehören neben Profischauspielern auch Laien wie Sie erwähnten. Was schätzen Sie an der Mischung?**

Ich habe bei „Sehnsucht“ tatsächlich mehr als in meinen vorherigen Regiearbeiten mit Schauspielern gearbeitet, weil ich ingesamt nach einer etwas anderen Ästhetik gesucht habe. Dennoch wollte ich nicht auf die Arbeit mit Laien verzichten. Ich finde, Laien bringen eine andere Farbe in den Film. Einigen sind wir im Laufe der Recherche begegnet, etwa der passionierte Herr, der uns die Barbarossa-Höhle zeigte, oder die nette Verkäuferin aus unserer Lieblings-Konditorei. Ihr Pudel ist ebenfalls im Film gelandet. Wir haben aber auch klassisch über eine Anzeige in der Lokalzeitung sehr viele Mitwirkende gefunden. 
Uns war es wichtig, die Bewohner mit einzubeziehen und nicht als Berliner Produktion einzufallen und unseren Stiefel durchzuziehen. Ihre Sicht, wie es ist, in Sangerhausen zu leben, ist zwar nicht eins zu eins im Film, aber sie hat unsere Wahrnehmung sehr beeinflusst. 


**Die Produktionsfirma [Faktura Film](/company/faktura-film) ist in Magdeburg angesiedelt.**

Produzent [Kirill Krasovski](/person/kirill-krasovski), mit dem ich an der [dffb](/company/dffb) zusammen studierte, ist irgendwann mit seiner Firma nach Magdeburg gezogen... Diese Nähe bzw. Verbindung zum Drehort hat - wie ich finde - auch geholfen, Zugang zu bekommen. Ein Teil des Produktionsteams stammt aus Magdeburg. 


**Haben Sie komplett in Sangerhausen und Umgebung gedreht?**

Fast. Da wir Förderung vom [Medienboard](/company/medienboard-berlin-brandenburg) bekommen haben, drehten wir fünf Tage in Brandenburg. Ich habe mich erst geärgert, weil wir ursprünglich die Szenen mit Novalis in einem schönen Schloss direkt neben unseren anderen Locations umsetzen wollten. Das musste zum Zeitpunkt des Drehs aber unerwartet saniert werden. Mit Wiesenburg in Brandenburg haben wir ein tolles Motiv gefunden, wodurch wir auch auf ganz neue Ideen gekommen sind,  so dass sich – wie so oft - ein kleiner Unfall schließlich als Glücksfall herausstellte. 

##### „Wir wollten vor allem vermeiden, Klischees über Ostdeutschland zu bedienen.“
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**Ihr Film hat einen sozialkritischen, ernsten Kern, ist aber ungemein leichtfüßig, witzig und ironisch erzählt. Wie bekommen Sie die Balance hin?**

Ich hoffe zumindest, dass ich sie hinbekommen habe! Wir wollten vor allem vermeiden, Klischees über Ostdeutschland zu bedienen. Gleichzeitig wollten wir der inzwischen gesamtdeutschen Realität gerecht werden und den erschreckenden Rechtsruck, den wir gerade erleben, reflektieren. Die Balance entsteht auch dadurch, dass wir - wie gesagt - verschiedene Perspektiven schildern und dabei die Perspektiven aller Figuren ernst nehmen. Die einzige Karikatur, die ich mir erlaubt habe, sind die bayerischen Nacktwanderer. Ich komme selbst aus Bayern und muss die Bayern nicht so zart anfassen. Der Harzer Naturistensteig, auf dem sie unterwegs sind, ist allerdings auch so ein dokumentarisches Fundstück wie die eingangs erwähnten anderen seltsamen Details. 

Letztendlich entsteht die Balance durch die Feinarbeit an den Dialogen und Situationen. Ich hoffe, dass das Unangenehme, Gefährliche zur Geltung kommt. Deswegen ist etwa Friedrich Merz‘ Spruch im Wahlkampf „Die Migranten lassen sich die Zähne machen, während die Deutschen keine Termine bekommen“, den ich unsäglich finde, im Radio zu hören. So wird klar, dass solches Gedankengut nicht nur wie oft behauptet bei „rassistischen Hinterwäldlern“ seinen Ursprung hat, sondern auch von oben kommt…

##### „Ich nutze die Kraft der Fiktion, um Möglichkeiten, die ich erzählen will, nicht realistisch ausbuchstabieren zu müssen“
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**Der internationale Titel des Films lautet „Phantoms of July“, der vorherige Film hieß „[Blutsauger](/movie/blutsauger)“. Sagenfiguren wie Gespenster oder Vampire sind in Ihren Werken vertreten. Wie passen Sie zur Beschreibung sozialer Realität?** 

Ich nutze die Kraft der Fiktion, um Möglichkeiten, die ich erzählen will, nicht realistisch ausbuchstabieren zu müssen, wie die Verbindung von Ursula zu vorherigen Generationen. Anders ausgedrückt, das Fantastische hilft, abstraktere Ideen konkret zu machen und das macht darüber hinaus Spaß. Als Zuschauer schätze ich es genauso. Als Filmemacher sehe ich mich auch nicht in der Rolle, Lösungen anzubieten, die auch im realen Leben funktionieren müssen. Lieber spiele ich mit dem Möglichkeitssinn.


**Lokalkolorit bestimmt “Sehnsucht in Sangerhausen”. Haben Sie das Gefühl, dass in Ostdeutschland noch mehr narratives Potenzial steckt?** 

Es gibt tolle Filme über Ostdeutschland, aber oft sind es „Problemfilme“, die ich ebenso anstrengend finde wie den jovialen Tonfall, den manche anschlagen. Er ist nicht nur in Filmen über Ostdeutschland, sondern etwa auch in Filmen über Bayern zu finden, hemdsärmelige Filme über patente Charaktere. 

In Sangerhausen fand ich wie gesagt spannend, dass die Menschen und auch die Landschaften sehr unterschiedlich sind, sich auch viel Schönheit offenbart. Unser Kameramann Faraz Fesharaki ist Iraner und hat einen anderen Blick auf die Dinge, so erinnerten ihn die Bäume am Rande der Autobahn zwischen Eisleben und Sangerhausen an Wüsten aus Filmen von [Abbas Kiarostami](/person/abbas-kiarostami). 



**Wie ist diese so stark regional verortete Geschichte beim internationalen Publikum angekommen?**

Ich habe noch nicht mit so vielen Leuten gesprochen. Ich hatte aber das Gefühl, dass es gut funktioniert. Ein Grund ins Kino zu gehen, ist ja Orte zu entdecken, die man nicht kennt.  Wir haben auch versucht, den Ort sinnlich erfahrbar zu machen. Außerdem glaube ich nicht, dass es so viel Kontext braucht. Den Rechtsruck und Migration zum Beispiel gibt es fast überall. Soziale Gegensätze gibt es überall. Der Film bietet auch unterschiedliche Perspektiven an, man erkundet die Gegend aus der Perspektive der iranischen Figur Neda. Und geschildert werden universelle Erfahrungen, wir erzählen, was in leicht modifizierter Form woanders auf der Welt genauso relevant ist. 


##### „Ich mag keine depressiven Filme, sondern Filme, die dem Ernst der Themen, die behandelt werden, gerecht werden, aber auch eine Leichtigkeit haben.“
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**Manche Figuren sind „beschädigt“, verletzt, nicht nur psychisch wie [Clara Schwinnings](/person/clara-schwinning) Ursula, sondern auch physisch wie [Maral Keshavarz](/person/maral-keshavarz)‘ Influencerin Neda mit ihrem gebrochenen Arm oder [Kyung-Taek Lies](/person/lie-kyung-taek) Chauffeur/Reiseführer Sung-Nam mit seiner Halskrause.**

Ich wollte, dass nicht nur erzählt wird, dass die Figuren vom Leben beschädigt sind, sondern dem einen physischen Ausdruck geben. Gleichzeitig bringt es für das Spiel wahnsinnig viel, etwa für Maral Keshavarz, die sich mit der Bandage nicht so bewegen konnte, wie sie wollte, eingeschränkt war. Es ist eine weitere Frustration, sein Potenzial nicht ausschöpfen zu können, wie sie viele Menschen mit Migrations-Background haben, die in Deutschland nicht in ihren alten Berufen, Positionen arbeiten dürfen. Dass sich Sung-Nam weigert, bestimmte Ziele anzusteuern, weil er zu oft abbiegen muss, es ihm zu anstrengend ist mit Halskrause, ist ein kleiner, auch ein bisschen trauriger Witz. Ich mag keine depressiven Filme, sondern Filme, die dem Ernst der Themen, die behandelt werden, gerecht werden, aber auch eine Leichtigkeit haben. Deswegen wollte ich melancholischen Humor im Film haben.  


**Sie drehen sehr spezielle Filme. Wie schwierig ist es, sie zu finanzieren?** 

Bisher hat es irgendwie immer geklappt. Also man rennt nicht offene Türen ein, aber es ist auch kein jahrelanger Kampf. Wir haben den Film relativ schnell finanziert bekommen, etwa in einem Jahr. Wir haben wieder mit [Frank Tönsmann](/person/frank-toensmann), unserem Redakteur vom [WDR](/company/westdeutscher-rundfunk-wdr), zusammengearbeitet, der uns schon einmal stark unterstützt hat, ein Projekt anzuschieben. Einen Sender als Partner für Kinoprojekte zu gewinnen, wird immer schwieriger, ohne ist es aber sehr schwierig, so zittern wir jedes Mal, ob es trotz der schrumpfenden Töpfe bei den Sendern klappt. Ich bin gespannt, wie es sich mit der kulturellen Filmförderung entwickelt, die nun unter dem Dach der [FFA](/company/ffa-filmfoerderungsanstalt) angesiedelt ist. Für uns war sie ein wichtiger Partner und sehr offen für unsere Art von Film.


**Wie würden Sie Ihre Art von Film, von Kino beschreiben?**

Ich mag Kino, das sich erlaubt, experimentellere Wege zu gehen, aber auch Bezug zum Unterhaltungskino hat. Wobei das populäre Kino, an das ich denke, das populäre Kino der 50er, 60er Jahre ist, etwa das von [Federico Fellini](/person/federico-fellini). Seine Filme waren sehr erfolgreich. Die Generation meiner Eltern kennt und schätzt das Autorenkino dieser Zeit noch. Heutzutage ist der Zugang aus vielerlei Gründen verloren gegangen. Aber ich finde, man sollte weiterhin andere Erzählweisen, andere Bildsprachen anbieten. 


**Haben Sie ein nächstes Projekt im Hinterkopf, vielleicht einen neuen interessanten Ort gefunden?** 

„Sehnsucht in Sangerhausen“ war der erste Film, der durch Erkundung eines Ortes entstanden ist.  Die vorherigen habe ich auf Papier entwickelt. Tatsächlich habe ich schon ein paar Stichproben in anderen Regionen genommen, bin aber nicht auf ein Sangerhausen 2 gestoßen, wo alles so nah beieinander fast wie in einem Studio ist. 

Ich habe ein Projekt im Auge, bin aber noch ganz am Anfang und weiß nicht, wie es sich entwickelt. „Sehnsucht in Sangerhausen“ ging sehr schnell. Wir haben letztes Jahr gedreht und ich habe ab Oktober geschnitten. 


**Sie schneiden Ihre Filme immer selbst. Wollen Sie das Material nicht aus den Händen geben?**

Mir macht Schneiden wahnsinnig viel Spaß. Manchmal denke ich auch, dass ein anderer Blick auf das Material gut wäre. Aber dann wäre ich eifersüchtig. In der Vorbereitung muss man sich Gedanken machen, ob das Geld reicht, wie das Wetter wird. Beim Dreh muss man sehr schnell sein, im Bruchteil einer Sekunde eine Entscheidung treffen. Beim Schnitt hat man Zeit, mit dem Material zu spielen, Dinge auszuprobieren und muss mit niemand verhandeln. Gerade bei „Sehnsucht in Sangerhausen“ sind viele Ideen im Schnitt entstanden. 



**ZUR PERSON**: Julian Radlmaier

Der in Nürnberg geborene Filmemacher, Jahrgang 1984, studierte an der dffb und der Freien Universität in Berlin sowie an der Sorbonne in Paris. Er gab 2017 mit „[Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes](/movie/selbstkritik-eines-buergerlichen-hundes)“ sein Langspielfilmdebüt als Regisseur, Drehbuchautor und Editor und spielte auch eine Hauptrolle. Es wurde u.a. in [Rotterdam](/company/international-film-festival-rotterdam) und bei der [Berlinale](/company/internationale-filmfestspiele-berlin) in der Perspektive gezeigt. „Blutsauger“ mit Filmemacherkollege [Alexandre Koberidze](/person/alexandre-koberidze) in der Hauptrolle feierte ebenfalls bei der Berlinale Premiere, in der Sektion Encounters. Das Drehbuch wurde mit der Lola prämiert und mit Illustrationen als Buch veröffentlicht. Radlmaier arbeitet regelmäßig mit Produzent Kirill Krasovski und seiner Faktura Film.



Julian Radlmaier zu „Sehnsucht in Sangerhausen“: „verschiedene Perspektiven schildern“