Blickpunkt:Film

Kino

Blickpunkt:Film: Ihre Filme erinnern im Aufbau an ein eigenwilliges Puzzle. Ein Affront gegen die lineare Struktur à la Hollywood?

Alejandro González Iñárritu: Diesen direkten Weg von A über B nach C finde ich langweilig und für die heutige Zeit nicht mehr adäquat. In der Wirklichkeit erzählt kein Mensch chronologisch, sondern springt von der Vergangenheit in die Gegenwart und umgekehrt. Wir leben in einer fragmentarischen Welt, das sollte sich in meinen Augen auch in der Textur des Films widerspiegeln.

BF: Wie haben Sie die komplexen Figuren entwickelt?

Drei Jahre Arbeit am Drehbuch

AGI: Die einzelnen Charaktere und die psychologische Spannung herauszuarbeiten, entpuppte sich als schwierigste Aufgabe. Nicht umsonst dauerte es drei Jahre bis zum fertigen Drehbuch. Eindimensionale Figuren interessieren weder mich noch den Zuschauer, daher lote ich bei jeder Person seelische Untiefen und Brüche aus, die man ihnen abnehmen muss. Zusätzlich tüftelten wir lange am visuellen Konzept. Die Handkamera unterstreicht noch die Rastlosigkeit und Verlorenheit des Einzelnen.

BF: Wie haben Sie das Schauspielerensemble überzeugt?

AGI: Ich war ganz baff, als mich [Sean Penn](/person/sean-penn) nach "Amores Perros" einfach anrief und beglückwünschte. Später trafen wir uns bei der Oscar-Feier und verstanden uns auf Anhieb. Dann beteiligten wir uns beide mit Kurzfilmen an der Anthologie über den 11. September. Wir begegnen uns mit gegenseitigem Respekt. Ich habe ihm das Drehbuch geschickt und er sagte sofort zu, wie auch [Benicio Del Toro](/person/benicio-del-toro). [Naomi Watts](/person/naomi-watts) war Feuer und Flamme, ohne einen Buchstaben gelesen zu haben.

BF: Wie pflegt man diese unterschiedlichen Egos?

AGI: Ich plane eigentlich sehr genau. Es gibt nichts Schlimmeres als einen Regisseur, der mit gutem Willen, aber ohne klares Konzept am Set auftaucht und vielleicht noch glaubt, alles zu wissen. Ich nehme Schauspieler ernst und folge aufmerksam ihren guten Vorschlägen. Nicht zu vergessen meine Integrationsfunktion, zu der es gehört, mich auf die Persönlichkeit eines jeden Schauspielers einzulassen. Mit Del Toro habe ich schon fünf Monate vor Drehbeginn angefangen zu arbeiten, Penn dagegen probt ungern im Vorfeld. Naomi Watts war unheimlich nah an der Figur dran, dass ich immer Angst hatte, sie würde in Tränen ausbrechen.

BF: Worin liegt der Vorteil bei Dreharbeiten in chronologischer Abfolge?

AGI: "21 Gramm" fordert Emotionen heraus, denn vieles läuft im Unterbewusstsein ab. Die chronologische Vorgehensweise ermöglichte den Schauspielern, sich langsam einander anzunähern und heranzutasten. Das tut der Atmosphäre eines Films wie "21 Gramm" gut.

BF: Gab das 20-Mio.-Dollar-Budget den Anstoß, in Englisch und in Amerika zu drehen?

AGI: Das Drehbuch entstand erst in Spanisch, und wir dachten an Mexico City als Handlungsort. Aber für einen englischsprachigen Film bekommt man eben ganz andere Schauspieler. Über das Budget freute ich mich anfangs wie ein Kind, merkte aber bald, dass mir wie bei "Amores Perros", der nur ein Zehntel davon kostete, wieder ein paar Drehtage fehlten. Egal wie viel Geld man zur Verfügung hat, es gehört wahrscheinlich zu den ungeschriebenen Gesetzen des Filmemachens, immer kämpfen zu müssen. In den USA ist alles viel teurer als in Mexiko. Also benötigt man auch mehr Geld, das dann wie Schnee in der Sonne schmilzt.

"In den USA ist alles viel teurer als in Mexiko"

BF: Werden Sie Ihrer Heimat Mexiko untreu und in Zukunft weiterhin in den USA arbeiten?

AGI: Ich werde dort hingehen, wo ich meine Visionen am besten realisieren kann. Die Ideen sind da, aber die Bedingungen müssen stimmen. Dazu gehört auch, dass ich gemeinsam mit meinem eingespielten Team aus Mexiko - darunter Drehbuchautor [Guillermo Arriaga Jordan](/person/guillermo-arriaga-jordan) und Kameramann [Rodrigo Prieto](/person/rodrigo-prieto) - Projekte realisieren kann. Im Kreis meiner Filmfamilie bin ich einfach sicherer. Da kann ich mich 100-prozentig darauf verlassen, dass sie meine Vorstellungen versteht und umsetzt. Wir fühlen uns wie eine mexikanische Rock'n'Roll-Band, die durch die Welt zieht.

Regisseur Alejandro González Iñárritu über "21 Gramm"