Blickpunkt:Film

Produktion

Morgen startet bei Netflix der neue Horrorthriller von [Thomas Sieben](/person/thomas-sieben), "[Prey](/movie/prey_0)" mit [David Kross](/person/david-kross), [Hanno Koffler](/person/hanno-koffler), [Maria Ehrich](/person/maria-ehrich), [Robert Finster](/person/robert-finster) und [Yung Ngo](/person/yung-ngo) in den Hauptrollen. Wir sprachen mit dem Filmemacher über die Arbeit für Netflix und die Entwicklungen im deutschen Genrekino.


Sie drehen Genrefilme in Deutschland. Noch vor wenigen Jahren hätte man sich schwergetan.


THOMAS SIEBEN: Die Entwicklung ist positiv. Man muss nicht mehr wie nach der Nadel im Heuhafen nach Genrefilmen aus Deutschland suchen: "Prey" ist ein gutes aktuelles Beispiel, wie auch ["Blood Red Sky"](/movie/blood-red-sky). Ich weiß nicht, was bei den anderen Streamern geplant ist, aber Netflix ist in dieser Hinsicht sehr umtriebig hierzulande. Auch was man sonst so hört, was aktuell entwickelt wird bei unterschiedlichsten Produktionsfirmen, kommt da eine ganze Menge auf uns zu. Der Ruf nach Genre ist groß. Vielleicht habe ich als Genreregisseur eine spezielle Wahrnehmung, weil ich gezielt angesprochen werde. Aber mir scheint, da ist viel in Bewegung gekommen. Player, von denen man niemals angenommen hätte, dass Horror für sie in Frage kommen könnten, öffnen sich. Vor fünf Jahren gab es noch viele Stoffe, bei denen schon im Vorfeld abgewunken wurde, das müsse man gar nicht erst schreiben oder anbieten, weil es keine Aussicht auf Umsetzung gäbe. Heute ist das völlig anders. Dank der Streamer ist heute alles denkbar.


Sie bedienen sich der Stilmittel des amerikanischen Genrekinos. Ist "Prey" Ihrer Ansicht nach ein deutscher Film?


THOMAS SIEBEN: Ich sehe mich hundertprozentig als deutscher Filmemacher. Bei ["Kidnapping Stella"](/movie/kidnapping-stella) war die Situation nicht ganz so eindeutig, weil es sich um das Remake eines britischen Thrillers handelte. Aber meine Filme davor, ["Distanz"](/movie/distanz) und ["Staudamm"](/movie/staudamm), waren urdeutsche Stoffe. Und "Prey" erzählt, abgesehen davon, dass wir auch in Deutschland mit deutschen Schauspielern in deutscher Sprache gedreht haben, ebenfalls eine sehr deutsche Geschichte. Auch bei uns gibt es die Großstädter, die in die Natur fahren, um in ihren Instagram-Storys ihrer Naturverbundenheit Ausdruck zu verleihen. Natürlich kennt man das Szenario des Films als Filmfan aus amerikanischen Vorbildern: ["Deliverance"](/movie/beim-sterben-ist-jeder-der-erste), "[Texas Chainsaw Massacre](/movie/michael-bays-texas-chainsaw-massacre)", "[The Hills Have Eyes](/movie/the-hills-have-eyes-huegel-der-blutigen-augen)". Aber wer schon einmal mit einem Auto mit Berliner Kennzeichen durch Brandenburg gefahren ist, wird das Gefühl kennen, dass man als Städter argwöhnisch beobachtet wird. Und darf ich noch sagen: Was gibt es deutscheres als den Wald? Die bekanntesten Märchen der Grimms spielen im Wald! Ohne zu viel verraten zu wollen: Darauf gibt es auch entsprechende Verweise in meinem Film.


In "Kidnapping Stella" wie auch "Prey" stellen Sie die Solidarität unter Männern auf den Prüfstand. Ein Thema, das Sie umtreibt?


THOMAS SIEBEN: Was mich seit Jahren sehr intensiv beschäftigt, ist das Thema toxische Männlichkeit. Ich bin Jahrgang 1976, bin also noch in einer anderen Gesellschaft großgeworden, in der viele männliche Handlungsmuster noch als akzeptiert galten, die man einem heute einfach nicht mehr durchgehen lassen würden. Bei "Kidnapping Stella" geht es um einen Mann, der zu drastischen Mitteln greift, weil er eine Trennung nicht verkraften kann. Bei "Prey" versagen die Freundschaften zwischen Männern in einer Extremsituation, teilweise entdeckt man sehr schnell, wie diese vermeintlich aufgeklärten Männer aus der Großstadt wieder in tradierte Denkmuster verfallen. Das ist ein interessantes Konstrukt. Und es hat mir Spaß gemacht mir anzusehen, wie dünn die zivilisatorische Decke dann doch ist. Ein Genrefilm bietet sich dafür an.


Der Genrefilm lebt von der Konvention. Wie wichtig sind Ihnen die Konventionen? Oder liegt der Spaß für Sie daran, mit den Konventionen zu spielen oder sie gar zu brechen?


THOMAS SIEBEN: Das Tolle am Horrorfilm ist, dass man das Rad nicht jedes Mal neu erfinden muss, wenn man das Handwerk beherrscht und eine Geschichte zu erzählen hat. Nicht jeder Gruselfilm muss ["The Others"](/movie/the-others) sein, der mit einem Twist am Schluss die Handlung in eine völlig neue Richtung dreht. Da gibt es 20 andere Spukhausfilme, die einen solchen Twist nicht haben, aber trotzdem gut gemacht sind und die man sich als Horrorfan mit ebenso großer Freude ansieht. Mein Anspruch bei "Prey" war nicht, etwas radikal Neues zu machen. Mein Anspruch war, es gut zu machen. Es muss immer um die Figuren gehen, ihre Reise, ihre Erkenntnisse. Daraus bezieht sich die eigentliche Spannung. Wenn man dann noch ein paar Überraschungen dabei hat, ist es noch besser. Für mich bestand der Spaß darin, die Geschichte funktionieren zu lassen. Und dafür musste er handwerklich sauber gemacht sein.


Handwerk wird gemeinhin unterschätzt, als handele es sich dabei um etwas, vor dem man sich schämen muss.


THOMAS SIEBEN: Das ist eine Haltung, die ich nicht verstehen kann. "Prey" bezieht seinen Reiz daraus, dass er stimmig ist, dass alles passt. Wir haben uns endlich viel Gedanken gemacht über Kamerabrennweiten und Blickwinkel. Was sieht man wann, wie sieht man es, was muss die richtige Abfolge sein? Das ist sehr technisch. Aber es ist eine große Herausforderung, für alle Beteiligten, auch die Schauspieler: Jetzt musst du nach links gucken, jetzt siehst du das Blut, jetzt verstehst du. Das ist ein Arbeiten, wie man es im Drama weniger hat, wo es darum geht, Momente zu kreieren. In einem Genrefilm ist die technische Umsetzung das A und O.


Haben Sie den Eindruck, ein besserer Regisseur geworden zu sein?


THOMAS SIEBEN: Auf jeden Fall. Niemand spricht über die schauspielerische Leistung von [Bruce Willis](/person/bruce-willis) in ["Stirb langsam"](/movie/stirb-langsam), auch wenn er brillant ist. Darum geht es nicht. Es geht darum, ob der Film Spannung erzeugt oder nicht. Das ist eine messbare Größe, wie man sie nur im Genrefilm findet. Es ist ein ziemlich bedrohliches Schwert, dass über einem Filmemacher schwebt. Es ist ergebnisorientiertes Filmemachen. Dass man besonders tiefe Momente generiert, kommt eher selten vor oder ist ein Nebenprojekt dessen, dass man sich intensiv Gedanken darüber gemacht, was genau man drehen muss, um eine Szene funktionieren zu lassen. Man kann es immer auch falsch machen. Und falsch hat man es gemacht, wenn es nicht spannend ist. Aber ich spüre, wie ich besser dabei werde, diese Anforderungen zu erfüllen. Das macht auch Spaß.


Der Spaß hat sich doch gewiss auch in Grenzen gehalten, weil sie mitten in den zweiten Lockdown hineingedreht haben.


THOMAS SIEBEN: Es stimmt, dass wir mit der Covidproblematik konfrontiert waren. Es stimmt aber auch, dass wir ein fast ideales Projekt hatten, um sicher drehen zu können, obwohl wir uns in einem Hochinzidenzgebiet aufhielten: wenige Schauspieler, kleines Team, überschaubare Locations draußen in einem einsamen Wald. Wir haben fast chronologisch gedreht, was zur Folge hatte, dass nicht ständig Leute kamen und gingen. Wer angereist war, drehte seine Szenen ab und war dann wieder weg. Ich kenne wenig Berufsstände, die besser und kreativer auf Problemsituationen reagieren als Menschen, die Filmsets organisieren. Das ist fast wie beim Militär, sehr pragmatisch und immer ergebnisorientiert. Von daher konnten wir unter fast optimalen Umständen drehen.


"Kidnapping Stella" war ein Kinofilm, der von Netflix ausgewertet wurde. "Prey" entstand für Netflix. Hat sich für Sie dadurch etwas geändert?


THOMAS SIEBEN: Ich hatte Seelenfrieden. Wenn man nicht gerade den ganz großen deutschen Film dreht, lebt man doch in der ständigen Angst, dass der Film keine richtige Chance im Kino erhält. Wofür es viele Gründe geben kann, wie wir alle wissen. Bei Netflix wusste ich dagegen schon am Set, dass "Prey" irgendwann einmal einen vernünftigen Aufschlag haben wird. Er wird seine Chance bekommen. Das lässt einen ungemein gut schlafen und ungemein gut arbeiten. Es liegt in den eigenen Händen: Man muss nur einen guten Film abliefern, dann stehen die Möglichkeiten gut, dass er weltweit entdeckt werden kann.


Merken Sie ein Momentum nach "Kidnapping Stella" und "Prey"?


THOMAS SIEBEN: So richtig weiß man das nie. Ich stelle aber fest, dass mir mehr Projekte angeboten werden oder für größere Projekte in Betracht gezogen werde, weil sich meine Sichtbarkeit nach "Kidnapping Stella" deutlich erhöht hat. Ich schließe nicht aus, künftig auch Filme zu machen, die nicht dem Genrekino zuzuordnen sind. Man soll niemals nie sagen. Aber ich muss auch betonen, dass ich dieses Kino liebe. Das sind die Filme, mit denen ich großgeworden bin - ["Freitag der 13."](/movie/freitag-der-13), ["Hellraiser"](/movie/hellraiser-das-tor-zur-hoelle)... Das ist meine Schule. Wenn ich solche Filme weiterhin machen kann, werde ich das liebend gern tun. Ein paar Ideen gibt es schon. Ich will diese Zeitenwende auf jeden Fall mitmachen und mitgestalten, die gerade stattfindet.


Das Gespräch führte Thomas Schultze.

Thomas Sieben zu "Prey": "Ich hatte Seelenfrieden"