Blickpunkt:Film

Reviews

Dokudrama über Mitglieder des Roten Halbmonds, die am 29. Januar 2024 alles Denkbare unternehmen, um ein in Gaza in einem Auto gefangenes fünfjähriges Mädchen zu retten.

23 Minuten stehende Ovationen wollen die professionellen Applausmesser der amerikanischen Trades bei der Weltpremiere des neuen Films von [Kaouther Ben Hania](/person/kaouther-ben-hania) gestoppt haben. Womit sie die sich nun selbst erfüllende Prophezeiung nur weiter füttern, die „The Voice of Hind Rajab“ schon in den Tagen vor Beginn der 82. Mostra in Venedig als das große Event des Festivals positioniert hat, diesseits der mit Stars vollgepackten Großproduktionen, die sich für die Oscarsaison in Stellung bringen, als der eine Film, der die Stimmung der Zeit einfängt, als könnte in ihm all die aufgestaute Wut über den fassungslos machenden Krieg in Gaza gesammelt werden, sich in ihm entladen, ein Statement für die Welt. Als ein Stück effektiver Agitprop ist der Film kaum zu überbieten, ein „Die Schlacht von Algiers“ für unsere schnelllebige Zeit, weil die Zutaten einen Nerv treffen und Widerwort ausschließen: Niemand will sich in der Öffentlichkeit in dem aufgeheizten Kampf um die Herzen und Köpfe der Menschen vorwerfen lassen, er sei herzlos und würde sich dem Schicksal sterbender Kinder verschließen. 

Insofern ist „The Voice of Hind Rajab“ jetzt schon, einen Tag nach seiner Weltpremiere, mehr als ein Film, den man als das bewertet, was er ist, ein kompetent gemachtes Dokudrama im Fernsehlook, das genau das erreicht, was es will, ohne ein überzeugender Film zu sein. Er ist die filmische Entsprechung eines Märtyrers, Symbol für eine Stimmung, plakativer Aufschrei, ein Memento mori und vielleicht deshalb nicht nur Film der Stunde, sondern auch Favorit für den Goldenen Löwen, auch wenn man ihm all das vorwerfen kann, was Kritiker generell ins Feld führen, wenn sie Überwältigungskino aus Hollywood als manipulativ und anmaßend verdammen. Keine Frage, was da am 29. Januar 2024 in Gaza passiert ist, ist schockierend und schrecklich, noch erschütternder gemacht durch den Umstand, dass es sich bei dem Kriegsverbrechen um eine kleine Fußnote handelt, ein winziger Ausschnitt aus einem anhaltenden Konflikt: ein fünfjähriges Mädchen, das am Handy stundenlang verzweifelt und in Todesangst um Hilfe fleht, eingeschlossen in einem Auto, ihre ausgelöschte, von Kugeln durchsiebte Familie neben sich – und niemand kommt, kann kommen, obwohl die rettende Ambulanz nur acht Minuten entfernt steht, weil mit den israelischen Behörden erst einmal ein Sicherheitskorridor abgestimmt werden muss. 

Wie schon in „Olfas Töchter“ lässt Kaouther Ben Hania die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verschwinden. Die Spielszenen sind penible Nachstellungen, die verbunden werden mit den realen Tonaufnahmen der Anrufe. Es ist die Stimme von Hind Rajab, die man da hört. Es sind Schauspieler, die man darauf reagieren sieht, die Mitarbeiter der Palästinensischen Rothalbmondgesellschaft im über 100 Kilometer entfernten Ramallah spielen und ihrer zunehmenden Frustration und Erschöpfung ob ihrer Hilflosigkeit Ausdruck geben. Es ist ein effektiver Weg, die Distanz zum Zusehenden aufzuheben, fordert unmittelbare Anteilnahme ein. Das kann einem auch aufstoßen, weil Ben Hania einerseits bei den belegten Tatsachen bleibt, aber auch keine Gelegenheit auslässt, durchaus schamlos Emotionen einzufordern. Was man sieht, ist das, was man kriegt. George Lucas soll einmal gesagt haben, dass Emotion im Kino kein Kunststück sei, man müsse nur einem Kätzchen vor laufender Kamera den Hals umdrehen und man würde eine emotionale Reaktion hervorrufen. Man mag die Unmittelbarkeit und aufrichtige Wut von „The Voice of Hind Rajab“ schätzen, seine Momentaufnahme eines kritischen Zeitpunkts und vielleicht auch seine hemmungslose Subjektivität und Parteilichkeit. Man darf aber auch die gewählten Mittel kritisieren: Nicht jedem muss es gefallen, wie hier der Zweck alle Mittel heiligt, der Film gekonnt auf der Klaviatur auch billiger Tricks spielt, um sein Publikum zu vereinnahmen. 

*Thomas Schultze*
*In Partnerschaft mit unserer Schwesterpublikation THE SPOT media & film*

REVIEW VENEDIG: „The Voice of Hind Rajab“