Blickpunkt:Film

Regisseurin [Sherry Horrmann](/person/sherry-hormann) inszenierte bereits Filme wie [„Wüstenblume“](/movie/wuestenblume) oder [„3096 Tage“](/movie/3096-tage), jetzt setzt sie erstmals einen Film für einen Streamer um. In [„Fall for Me“](/movie/fall-for-me) erzählt sie von Lilli, die ihre jüngere Schwester auf Mallorca besucht. Als sie erfährt, dass ihre Schwester mit einem Mann, den sie kaum kennt, verlobt ist, beginnt sie sich Sorgen zu machen. Gleichzeitig lernt sie den Clubmanager Tom kennen, mit dem sie eine Affäre anfängt. Doch auch er hat seine dunklen Geheimnisse… Der Film wird ab dem 21. August auf [Netflix](/company/netflix-germany) verfügbar sein.  

**In der Vergangenheit waren Sie vor allem für Dramen oder auch Komödien bekannt. Was hat Sie jetzt daran gereizt, einen Erotikthriller umzusetzen?**

Ich würde „Fall for Me“ gar nicht als Erotikthriller bezeichnen, sondern als einen Mix aus einem erotischen Drama und einem Liebesfilm. Liebe beinhaltet auch viele Aspekte zwischen Nähe, Abstand, Auseinandersetzungen und Neugier. Mich hat nach den ganzen politischen Filmen, die ich gemacht habe - also „Wüstenblume“ oder [„Nur eine Frau“](/movie/nur-eine-frau_4) - total gereizt, mich mit dem Thema Erotik zu beschäftigen. Wir leben in einem Land, das so gespalten ist und in vielen Bereichen gar nicht mehr aufeinander zugeht. Für mich gibt es da eine Sache, die alle vereint - und das ist die Sinnlichkeit. Darüber wird aber nicht mehr gesprochen; auch über weibliche Sinnlichkeit wird nicht mehr gesprochen. [Gillian Anderson](/person/gillian-anderson) hat das tolle Buch „Want“ herausgebracht, in dem Frauen anonym ihre sexuellen Fantasien beschreiben. Das kam leider erst heraus, als wir den Film schon abgedreht hatten. Aber das hat mich unheimlich bestärkt, dass es so wichtig ist, einen Film zu machen, in dem Erotik, Sinnlichkeit und weibliche Fantasie eine zentrale Rolle spielen.

**Erotikfilme waren gerade in den 80er- oder 90er-Jahren populär, heute gibt es sie aber kaum mehr. Inwiefern haben Sie sich von bereits bekannten Werken inspirieren lassen?**

Es sind durchaus einige Zitate in dem Film erkennbar, z.B. das Wet Shirt – so hat Peter Lindbergh Frauen in den 90ern fotografiert. Und Sie haben vollkommen Recht, es gibt das Genre von damals nicht mehr. Umso wichtiger finde ich es, zu zeigen, welchen Unterschied es zwischen Voyeurismus gibt und dazwischen, sich auf etwas einzulassen. Deswegen waren auch die Zusammenarbeit mit einem Intimacy Coach und die Offenheit der Schauspieler extrem wichtig. Es war uns sehr wichtig, dass der Film nicht voyeuristisch wird. Es geht um eine Frau, die dazu steht, dass sie auf etwas Lust hat und die Aufmerksamkeit genießt, die sie bekommt.

**Intimitätskoordinator war Florian Federl, der z.B. auch an [„Cassandra“](/tvshow/cassandra_4) mitgearbeitet hat. Wie lief die Zusammenarbeit mit ihm ab?**

Er hat sich wahnsinnig gefreut, dass wir dieses Thema angehen und das auch nicht mit Brutalität, sondern mit Sinnlichkeit verhandeln. Gemeinsam mit den Hauptdarstellern [Svenja Jung](/person/svenja-jung) und [Theo Trebs](/person/theo-trebs) haben wir dann in einem Hotel-Besprechungszimmer eine Choreografie entwickelt. Einen nüchterneren Ort kann man sich dafür gar nicht vorstellen, aber genau deshalb war das Besprechungszimmer so perfekt. Es geht um die Abspaltung der eigenen Persönlichkeit. Eine Choreografie ist eine szenische Arbeit, der Dialog wird dabei durch Berührung ersetzt. An der Stelle möchte ich auch betonen, wie mutig es von den Darstellern war, sich darauf einzulassen. Die ganze Welt kann diese Szenen sehen. Die beiden wollten hier etwas repräsentieren; jeder hatte seine individuelle Absicht, bei diesem Film mitzuwirken.

**Sie haben bereits angesprochen, dass es aktuell kaum Erotikfilme gibt. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?**

Ich glaube, es gab in den letzten Jahren andere Themen, die die Menschen mehr beschäftigt haben. Wir konnten einen Fokus auf Themen richten, die in der Gesellschaft oder der Politik kaum vorkommen. Bei Filmen wie „Nur eine Frau“ oder „Wüstenblume“ bekomme ich noch bis heute Nachrichten von Schülern, die sich damit auseinandersetzen - diese Filme waren also wahnsinnig wichtig. Das ist die große Kunst, die wir beim Film erfüllen können: Wir verpacken Themen in Unterhaltung, sie können aber trotzdem aufrüttelnd wirken. Es geht doch darum, immer wieder etwas Neues zu finden, das man erzählen möchte. Nicht immer Copy Paste von dem zu machen, was es schon gab und was erfolgreich war. Deswegen finde ich es toll, dass Netflix offen für den Film war.

![Lillo und Tom am Strand/ Bild: Netflix](https://s3.eu-central-1.amazonaws.com/zone.busch.store.image/02292222-a2b0-498f-9aca-cb295f070c56.jpg)

**Sie haben jetzt zum ersten Mal einen Film mit einem Streamer umgesetzt. Wie war Ihre Erfahrung mit Netflix?**

Das war eine ganz eigene, neugierige, intensive und tolle Reise. Ich hatte alle Freiheiten. Und dass ein unbekannter Schauspieler die Hauptrolle spielt, spricht sehr für Netflix. Die Chance, die sie mir gegeben haben, war genial. Wir arbeiten in einer Industrie, in der es inzwischen schwierig ist, sich auszuprobieren. Das war mit Netflix auf hohem Niveau möglich. Man wird da auch an seine eigenen Grenzen gepusht, was toll ist. Man wird gefordert, sein Können und seine Kreativität noch mehr zu erforschen.

**Inwiefern wurden Sie bei „Fall for Me“ konkret gefordert?**

Es ging um Fragen wie: Ist das jetzt wirklich die beste Erzählstruktur? Wie wollen wir beim Drehen die besten Bilder finden? Ich glaube, wenn man in seiner Kreativität wirklich Freiraum hat, dann merkt man, was noch alles in einem drinsteckt. Man inszeniert nicht mit einer Schere im Kopf, sondern man denkt größer.

**Vor drei Jahren kam die Dokuserie über den Tinder Schwindler heraus. War das auch ein Auslöser, diese Geschichte zu erzählen?**

Nein, das war kein Auslöser für mich. Es ging viel eher darum, dass wir ja alle mitbekommen, wie oft Frauen unter dem Deckmantel der Liebe manipuliert werden. Ich finde es interessant, welche Auswüchse das haben kann.

**Also geht es hier, wie in einigen anderen Filmen von Ihnen, auch um weibliche Selbstbestimmung?**

Ja, unsere Hauptfigur lässt sich ja nicht verführen, sondern sie verführt. Es geht um ihre eigene Lust und Sinnlichkeit. Die Figuren treffen zwar auf Betrüger und werden manipuliert, aber sie haben auch die Stärke, da wieder herauszukommen. Die Stärke bei uns Menschen liegt darin, dass wir Schwächen erleben und es schaffen, aus diesen Schwächen wieder herauszukommen.

![Lilli zeigt sich skeptisch gegenüber dem Verlobten ihrer Schwester/ Bild: Netflix](https://s3.eu-central-1.amazonaws.com/zone.busch.store.image/d9ee33aa-6e92-448a-9827-5539a0c8a2e5.jpg)

**Auf welche Herausforderungen sind Sie beim Dreh gestoßen?**

Es gibt im Film eine Sexszene am Strand; die zu drehen war bestimmt eine Herausforderung. (lacht) Das Meer macht sowieso was es will und Mallorca, wo wir gedreht haben, ist eine Insel mit vielen Besuchern. Eine Stelle zu finden, die eine Intimität und einen Schutz für die Schauspieler gewährt, war definitiv eine Herausforderung. Auch auf einer Klippe zu drehen war spannend. Wir hatten den Stunt Coordinator von [Pedro Almodóvar.](/person/pedro-almodovar) Die Koordination der Szene, wer wo steht und wann herunterspringt etc. war für mich ganz neu. It’s bigger than life, und das ist das Tolle. Unser Team war sehr international, viele kamen gerade von einem [Guy-Ritchie](/person/guy-ritchie)-Dreh. Jeder hat während des Drehs überlegt „Wie kann ich mich selber überraschen“.

**Sexszenen können ganz unterschiedliche Funktionen haben: Reine Erotik/ Skandal oder auch als Mittel zum Zweck, um etwas über die Figuren auszusagen. Welche Funktion haben sie in „Fall for Me“?**

Alle vier Szenen haben eine andere inhaltliche Auswirkung. Sie sind alle erzählerisch sehr unterschiedlich: von „ich möchte Befriedigung“, zu „ich habe mich verliebt“, zu einer Wut… Sexualität ist wie ein Kaleidoskop. Aber sie ist immer von einer Sinnlichkeit bestimmt, wobei sie auch eine Form von Humor sein kann. Zum Beispiel die Strandszene: Da war mein erster Impuls, dass Sex am Strand eher unpraktisch als sexy ist. Und das muss man dann auch genauso bedienen. Man kann nicht so tun, als wäre immer alles einfach, sondern muss auch humorvoll damit umgehen.

**Das macht auch deutlich, wie sich Sexualität im Film verändert hat, oder? Heute werden Sexszenen viel eher humorvoll oder emotional gezeigt, was früher eher nicht der Fall war.**

Absolut, es gibt da einen tollen Dokumentarfilm von [Nina Menkes](/person/nina-menkes) mit dem Titel „Brainwashed – Sexismus im Kino“. Der zeigt, wie sich in der Filmgeschichte der Blick auf Frauen geändert hat.

**Ist Ihr Film ein Werk, das bewusst den „female gaze“ verwendet?**

Mit dem Begriff haben wir uns jeden Tag auseinandergesetzt. Ich glaube darüber hinaus stark an den „human gaze“. Es geht immer darum, dass die Frau die Ermächtigung hat und im Mittelpunkt dieses Films steht. Sie ist eine sehr kontrollierte Frau, die glaubt alles zu überblicken, aber irgendwann gar nichts mehr im Griff hat. Es ist ein Film, der gegen die Moralisierung und Tabuisierung von weiblicher Sinnlichkeit geht.

**Zum Abschluss: Was würden Sie gerne an der Filmbranche ändern?**

Ich würde mich freuen, wenn die Filmbranche sich wirklich überlegt, wer die Zuschauer sind. Was bedeutet es, wenn man hört, dass die Zuschauer etwas bestimmtes wollen? Das wird viel zu sehr pauschalisiert. Ich würde mich freuen, wenn wir auch in der Besetzung wieder mehr Offenheit zeigen und Generationen verbinden. Ich wünsche mir mehr Neugier und Spielfreude.


Sherry Hormann zu „Fall For Me“: „Sexualität ist wie ein Kaleidoskop“