Blickpunkt:Film

Am 12. Januar startet im [ZDF](/company/zdf-zweites-deutsches-fernsehen) die Fortsetzung der von der [UFA Fiction](/company/ufa-fiction-gmbh) produzierten „Ku’damm“-Reihe. Die vierte Staffel, die bereits seit Samstag gestreamt werden kann, führt Familie Schöllack ins Jahr 1977. Wir sprachen mit Showrunnerin [Annette Hess](/person/annette-hess) über Entstehung und Umsetzung der sechs neuen Folgen und schielen schon ein wenig in die Zukunft.    

**Sie erzählen innerhalb der „Ku’damm“-Reihe erstmals eine Zeit, die Sie selbst schon erlebt haben, wie wirkt sich das aus?**

In den ersten Staffeln, die in den fünfziger und sechziger Jahren spielen, hatte ich mit meinen Großeltern und meiner Mutter einen Andockpunkt. Ich hatte schon ein Gefühl für die Zeit. Anders als bei Stoffen, die in den Vierzigern oder früher spielen, was ich ja auch geschrieben habe („Am Ende die Hoffnung“, „Die Spionin“). Aus meiner heutigen Sicht wirken die Bücher ausgedacht. Da bilde ich ein Klischee nach dem anderen ab. Aber bei 1977 fühlte ich mich sicher in der Mentalität, in der Atmosphäre. Ich weiß, wie man in den Familien miteinander gesprochen hat. Da waren die jungen Menschen frecher als 1956, da hat man der Mutter oder dem Vater widersprochen. Der Ton in den Familien hat sich verändert. Auch die Reibung von Disco und Punk habe ich in meinen Freundeskreisen intensiv erlebt. Es gab damals ja immer diese zwei Pole: Beatles und Stones, Punks und Popper, Geha und Pelikan, Puma und Adidas…

**Jetzt wecken Sie gerade viele Erinnerungen.**

Ja, man entflammt sofort. Auf der anderen Seite herrschte in dieser Zeit eine unterschwellige Angst. In jeder Post oder Bank hingen die Fahndungsplakate der RAF-Terrorist:innen. Und der Kalte Krieg bestimmte die Nachrichten - ich kann mich noch sehr gut an die widersprüchlichen Signale dieser Zeit erinnern. Einerseits aufbrechende Lebenslust, andererseits Angst vor einem alles vernichtenden Atomkrieg. Ich finde, 1977 weist viele Parallelen zur heutigen Zeit auf. Den allermeisten hierzulande geht es gut, die Menschen Leben in Wohlstand, aber es gibt gleichzeitig die Bedrohungen von Krieg oder Klimawandel, die unter allem liegen.

![](https://s3.eu-central-1.amazonaws.com/zone.busch.store.image/4f8187a4-1791-4d2e-834c-3645fecc6f58.jpg) Die „alte“ Schöllack-Garde: Sonja Gerhardt als Monika, Claudia Michelsen als Caterina und Maria Ehrich als Helga … (Credit: ZDF / Conny Klein)

**Stimmt einerseits. Aber zeigen Sie mit der schwarzen Journalistin oder darin, wie viele Figuren bereits heutige Sichtweisen auf Diversität in sich tragen, nicht auch eine Idealisierung der damaligen Welt – was natürlich auch den Reiz von Fiction ausmacht?**

Ich bin eine Romantikerin, und ich bin auch ein hochmoralischer Mensch. Ich möchte die Leute unterhalten, zum Lachen bringen, anregen, ich wünsche mir aber auch, dass sie als bessere Menschen aus dem Film oder der Serie rausgehen, als sie reingegangen sind. Ich setze mich aber nicht an den Schreibtisch und formuliere das in dem festen Willen, diesen Effekt zu erzielen. Es passiert einfach, ich glaube, weil ich mir für mich selbst wünsche, offen und tolerant zu sein, auch wenn ich meine Unzulänglichkeiten habe. Deshalb breche ich Dinge auf. Bei „Ku‘damm 56“ hat das wunderbar geklappt, weil danach Kinder und Enkel angeregt waren, ihren Großeltern Fragen zu stellen. Dafür gab es viel positives Feedback. Bei „Ku’damm 77“ jetzt ist dieser reine Frauenhaushalt auch so eine Utopie. Es spiegelt meine persönliche Frage wider, ob wir mit dem Matriarchat eine bessere Welt hätten, ob es weniger Zerstörung gäbe, wenn Frauen regieren würden. Natürlich gibt das immer Kritik, und es heißt, die Öffentlich-Rechtlichen haken ihre Bucket-List ab.

![](https://s3.eu-central-1.amazonaws.com/zone.busch.store.image/8892a6f4-c951-4736-ad95-7d93f8c6e157.jpg) … und die junge in Person von Marie Louise Albertine Becker als Friederike und Carlotta Bähre als Dorli (Credit: ZDF / Conny Klein)

**So war das aber nicht gemeint.**

Ich weiß. Ich lese immer die Kommentare bei Facebook und Instagram, weil mich das interessiert. Natürlich wird dort anonym kübelweise Hass ausgeschüttet. Als wir vor ein paar Wochen mit den Key Visuals rausgegangen sind, gab es Stimmen: „Jetzt fangen die auch noch bei meiner Lieblingsserie mit diesem woken Scheiß an.“ Meine Werte sind Menschlichkeit, Diversität und Gleichberechtigung. Eine gewisse Kritik finde ich aber berechtigt: das fiktionale Fernsehen bildet - bisher - nicht wirklich die Gesellschaft in ihrer Breite ab. Zum Beispiel gibt es zu wenig Ostdeutsche in Film und Fernsehen - sage ich jetzt mal vereinfachend.

**Das stimmt. Das Ost-West-Gefälle ist groß und oft erzählen Westler den Osten, aber das ist ein eigenes Thema.**

Auf jeden Fall hat sich viel getan in den letzten Jahren. Ich hatte die Idee für die Figur der schwarzen Journalistin schon bei „Ku'damm 59“. Da erschien es mir aber noch zu boulevardesk, eine junge schwarze Frau auf die „Oberrassistin“ Caterina Schöllack treffen und „Hallo Mutti“ sagen zu lassen. Aber jetzt fühlt es sich selbstverständlich an.

**Wie kam es zu der Idee, diese Linda in der Filmhandlung eine Doku über die Schöllacks drehen zu lassen? Das entpuppt sich als Geniestreich.**

Ich habe eine Vorliebe für Dokumentationen oder Mockumentaries. Alles in diesem Graubereich zwischen Wirklichkeit und Fiktion interessiert mich. Zunächst hatte ich die Idee, diese Staffel komplett als Dokumentarfilm zu erzählen. Der Gedanke, dass die Leute sich in ein paar Jahren vielleicht nicht mehr sicher sind, ob es die Schöllacks nicht doch wirklich gab, weil sie ja damals diese Doku gesehen haben, hat mich gereizt. Über meine erste Konzeption gab es mit dem ZDF große Diskussionen. Wir haben ja viele Fans, und ich will natürlich auch nicht, dass die ihre Serie nicht wiedererkennen. Schließlich schreibe ich für Menschen und nicht für mich. Dann habe ich mich an diese Mischform herangetastet und auch mit Regisseur [Maurice Hübner](/person/maurice-huebner) ausgelotet, was sich für die Doku-Ebene eignet und was in normalen Szenen besser aufgehoben ist. Aber es gab auch produktionstechnische Gründe.

![](https://s3.eu-central-1.amazonaws.com/zone.busch.store.image/2e2a398c-d144-4ec5-864f-4a82fa8e0d11.jpg) Zurück aus dem Gefängnis: Emilia Schüle als Eva (Credit: ZDF / Conny Klein)

**Welcher Art?**

Das Budget ist ein weiterer Aspekt, warum ich diese Doku erfunden habe. In den bisherigen Staffeln haben wir immer wieder West- und Ostberlin erzählt - aber nie den Grenzübergang selbst. Die Beklemmung bei der Kontrolle. Diese Ungeheuerlichkeit einer lebensgefährlichen Grenze mitten durch Berlin. Diese Atmosphäre konnte ich nur aus Figuren und Dialogen entwickeln, nicht aus Bildern. Es hieß immer: „Sorry, dafür reicht das Budget nicht.“ Mit der versteckten Kamera der Journalistin war der Grenzübertritt endlich möglich, dafür brauchten wir nur ein paar Rücken und Hintern und den Anschnitt einer dieser Kabinen am Grenzübergang - und keinen Bahnhof Friedrichstrasse mit 150 Komparsen. Der Vorteil dieser Dok-Kamera liegt außerdem darin, dass sie dynamisch intuitiv dem Geschehen folgt und da hinschaut, wo gerade etwas los ist. Man erreicht dadurch auch eine höhere Authentizität, etwa in der Szene als Dorli „Christiane F.-mäßig“ voll mit Drogen aufgefunden wird. Unser Kameramann [Michael Schreitel](/person/michael-schreitel) hat eine wunderbare Arbeit geleistet. Gerade mit den Komparsen war das nicht so einfach. Die sind ja geschult, bloß nicht in die Kamera zu schauen. Aber in die Dok-Kamera, durften, ja, sollten sie sogar reinschauen.

![](https://s3.eu-central-1.amazonaws.com/zone.busch.store.image/68d4c67b-2699-4116-a3f0-74bde97cd33f.jpg) Regisseur Maurice Hübner und Annette Hess am Set (Credit: ZDF / Conny Klein)

**Faszinierend ist, was Sie alles an Themen in diese Staffel reinpacken: IM/Stasi-Geschichte, Flüchtlings-Thematik, Gender-Gap, Doping, Nazi-Schuld und -Altlasten, Alkoholismus, häusliche Gewalt… Wie bekommt man das hin, ohne die Serie zu überfrachten?**

Mein erstes Bestreben ist es, komplexe Charaktere zu entwickeln. Jede Figur besitzt Heldenhaftigkeit und Abgrund. Wir haben die besten Schauspieler:innen Deutschlands in unserem Cast, und da habe ich nahezu die Pflicht, ihnen Figuren zu schenken, bei denen sie fliegen können. Wenn die Themen dann aus glaubwürdigen Figuren heraus erzählt werden, werden diese nachvollziehbar. Nehmen wir Friederike, die Tochter von Helga, die Polizistin werden will. Ich hoffe nicht, dass man da denkt, jetzt handeln sie das Thema Gleichberechtigung ab. Man ist einfach voll und ganz bei dieser energetischen, türenknallenden jungen Frau und wünscht ihr so sehr, dass das klappt. Natürlich geht es auch darum, für jede Staffel ein neues Thema zu finden, eine „Moral von der Geschicht“ - wie es so schön heißt. Ich brauche eine Vision, die mich über diese lange Strecke von drei Jahren von der Idee bis zur Ausstrahlung trägt. Bei „Ku’damm 77“ haben mich die Parallelen zum Heute umgetrieben, die Staffel ist mit Abstand die humorvollste und tröstlichste - weil wir das grade alle brauchen. Die Sehnsucht nach einem versöhnlichen Zusammenleben trotz unterschiedlichster Generationen und Positionen - ist glaube ich aktuell groß wie nie.

**Gutes Beispiel und gutes Stichwort, der Cast. [Carlotta Bähre](/person/carlotta-baehre) und [Marie Louise Albertine Becker](/person/marie-louise-albertine-becker), die als Dorli und Friederike die junge Schöllack-Generation verkörpern, sind ein Traum! Wie schwierig war es, die beiden zu finden und zu integrieren?**

Am Anfang steht [Nina Haun](/person/nina-haun), die geniale Casterin. Sie hat uns eine Auswahl vorgeschlagen, dann haben wir Castings gemacht, mit fünf Dorlis, die wir zusammen mit Sonja Gerhardt als Mutter getestet haben. [Sonja Gerhardt](/person/sonja-gerhardt) ist ja Mitte 30 und spielt eine 40-Jährige. Da mussten wir sicherstellen, dass man nicht denkt, das sind doch Schwestern. Als aber Carlotta hereinkam, hat Sonja schlagartig ihre Haltung verändert und war sofort ein bisschen dominanter, das hat gleich gepasst. Und dann haben beide eine verblüffende Ähnlichkeit. Das passt auch zwischen Marie Louise Albertine Becker, [Maria Ehrich](/person/maria-ehrich) und [August Wittgenstein](/person/august-wittgenstein), der ihren Vater spielt, so faszinierend gut. Marie wirkt so zart, aber sie hat dann die Szene gespielt, in der es um ihren Polizistinnenwunsch ging. Sie hat gleich mal einen Stuhl umgehauen und uns alle weggefegt. Beim Dreh hat sich sofort die Familiendynamik der Schöllacks auf die Dynamik im Cast übertragen: [Claudia Michelsen](/person/claudia-michelsen) als nachsichtige Großmutter, Sonja Gerhardt und Maria Ehrich als überforderte, ungeduldige aber liebende Mütter. Carlotta und Marie haben entsprechend intuitiv ihre Rollen eingenommen.

![](https://s3.eu-central-1.amazonaws.com/zone.busch.store.image/c2c0df86-634e-4168-897f-8a6cef40f772.jpg) Das Schöllack-Septett: Emilia Schüle, Maria Ehrich, Claudia Michelsen, Marie Louise Albertine Becker, Massiamy Diaby als Linda Müller, Carlotta Bähre und Sonja Gerhardt (Credit: ZDF / Conny Klein)

**Das Schöllack-Sextett oder auch Septett, wenn man [Massiamy Diaby](/person/massiamy-diaby) als Linda hinzu zählt, harmoniert prächtig, und es kommt keine zu kurz. Gibt es dennoch eine Figur, die Ihnen am nächsten ist, in der noch etwas mehr von Ihnen steckt?**

Mir liegt jede Figur gleichermaßen am Herzen. Ich liebe alle meine Kinder gleich. Aber die Hauptfigur ist Monika. Am Anfang sagt ihre Schwester Helga schon zu ihr, du erdrückst deine Tochter, sie ist dein einziger Lebensinhalt. Über Monika erzähle ich den Erkenntnisprozess, dass sie ihre Tochter loslassen muss. Grundsätzlich glaube ich, dass in jeder dieser Figuren Anteile von mir stecken. Ich werde nie vergessen, wie meine jüngere Tochter bei „Ku'damm 56“, als Caterina über das Zeugnis von Monica rummotzt, zu mir sagte: „Die ist ja genau wie Du.“ Auch die von [Emilia Schüle](/person/emilia-schuele) gespielte Eva ist mir sehr nahe. Wie sie aus dem Knast kommt und das Gefühl hat, alle sind gegen sie, und sie ist der Außenseiter, kann ich sehr gut nachvollziehen. Aber der schon erörterte Hauptkonflikt Monikas mit dem Loslassen der Tochter ist ein großes Thema, das ich selber habe. Da muss ich dann beim Schreiben auch mal heulen.

**Zwischen dem Release von „Ku’damm 56“ und „Ku’damm 77“ liegen neun Jahre. Wie hat sich die Serie über diesen Zeitraum, über die nun vier Staffeln verändert?**

„Ku‘damm 77“ ist definitiv meine Lieblingsstaffel, weil ich glaube, dass man so nah an die Figuren rankommt wie zuvor noch nicht. Es fühlt sich einfach echter an, realistischer, ein bisschen dreckiger. Ich bin eigentlich Fan von Sozialdramen, und „Ku'damm 56“ ist eher eine Disney-Geschichte. Nicht ohne Grund, wir haben daraus ja auch ein Musical gemacht. Es erzählt ein wenig die Geschichte, wie das hässliche Entlein zum schönen Schwan wird, obwohl es bei genauem Hinsehen auch überraschend, schmutzig und brutal ist, allein wenn man an die Vergewaltigung denkt. Aber ich persönlich fand es optisch immer ein bisschen zu glatt. Ich will die vorherigen Staffeln nicht schlecht machen, aber man kann hier - wie bei anderen Formaten auch – sagen, dass es erwachsen geworden ist. Es nähert sich der Wahrhaftigkeit an. Und es gab noch einen Unterschied.

**Welchen?**

Bei dieser Staffel war ich zum ersten Mal Showrunnerin im amerikanischen Sinn. Ich war mit dem Regisseur Maurice Hübener am Set und habe an einigen Tagen selbst die Regie übernommen. Bei den ersten Staffeln war ich zwar als Creative Producer auch Teil des Kreativteams, aber da habe ich mir nur abends die Muster angeschaut und war kaum beim Dreh dabei. Die direkte Arbeit mit dem Cast - die ich schon bei „Deutsches Haus“ erlebt habe -, ist eine beglückende Weiterführung meiner Arbeit. Mein Projekt vom ersten Satz am Schreibtisch bis zur letzten Mischungsabnahme gestalten zu können - das ist ein ganz großes Geschenk.

![](https://s3.eu-central-1.amazonaws.com/zone.busch.store.image/0109ccf0-d2b4-4936-abe8-aa0f3bf954f4.jpg) Coole Outfits: Sonja Gerhardt, Benedikt Kalcher und Carlotta Bähre als Tanz-Team (Credit: ZDF / Conny Klein)

**Wie geht es jetzt mit „Ku’damm“ weiter? Anknüpfungspunkte, um die Geschichte weiter zu erzählen gibt es ja genügend.**

Die große Herausforderung ist, ein Thema für eine nächste Staffel zu finden. Die Schauspielerinnen haben große Lust, weiterzumachen und so liegt es jetzt bei mir, etwas zu erfinden. Aber alle Türen stehen offen, was natürlich eine komfortable Situation ist.

**Tendieren Sie eher wieder zu einem kleineren Zeitsprung wie zwischen Staffel eins und zwei, oder zwei und drei?**

Ich bin ja auch ein kleiner Monk. Ich fände es schön nach 56, 59 und 63, jetzt noch mal drei Staffeln auch mit diesen drei, vier Jahren Abstand zu machen, also 80 und 83.

**Das wäre schön. Hand drauf?**

Ja.

Das Interview führte Frank Heine

Annette Hess zu „Ku’damm 77“: „Mich haben die Parallelen zum Heute umgetrieben“