Blickpunkt:Film

Reviews

Aberwitzige schwarze Komödie über ein ungleiches Brüderpaar, das nach Jahren ins Elternhaus zurückkehrt, um dort nach der vergrabenen Beute eines Raubüberfalls zu suchen.

„Es tut mir leid, das war ein Fehler.“ Das ist der Satz aus „Helden der Wahrscheinlichkeit – Riders of Justice“, der jüngsten Regiearbeit von [Anders Thomas Jensen](/person/anders-thomas-jensen) vor „The Last Viking“, der einem in Erinnerung geblieben ist. Er ist die Punchline der von Mads Mikkelsen gespielten Hauptfigur, aufrichtig und schuldbewusst geäußert nach jeder neuen grotesken Gewalteskalation, die unter Garantie Schrecken und meistens auch noch Tod bringt. „Es tut mir leid, das war ein Fehler“, könnte auch der Leitsatz des neuen Trupps Irrer sein, den Jensen für seinen sechsten Film als Autor und Regisseur versammelt hat, als sei es seine Maßgabe gewesen, den Haufen schräger Vögel, die in „Helden der Wahrscheinlichkeit“ zum Rachefeldzug gegen eine furchterregende Bikergang antreten, noch einmal toppen zu wollen für seine neueste dänische Delikatesse. Es ist ihm gelungen. „Riders of Justice, haltet unser Bier“. Es ist, als wolle Jensen die Grenzen austesten, wie weit er gehen kann mit seinem patentierten Ansatz, in erster Linie überforderte Männer mit Situationen zu konfrontieren, die ihre Gewaltimpulse kitzeln, und daraus doch Filme zu formen, die aberwitzig komisch sind, stachelige, unbequeme Komödien der Überforderung, bei denen man am lautesten lachen muss, wenn die schrecklichsten Dinge passieren. Reisen an den Ursprung des Schmerzes sind sie allesamt, aber keine ist jemals weiter gegangen als dieser psychotherapeutische Film, der die tief vergrabenen Wurzeln der Dysfunktion buchstäblich ausbuddelt im Urschlamm eines moosbewachsenen Waldes. Während der Film noch wild um sich schlägt, legt er die Finger bisweilen buchstäblich in die klaffenden Wunden.

Wie in allen Filmen von Anders Thomas Jensen spielen auch in „The Last Viking“ wieder [Nikolaj Lie Kaas](/person/nikolaj-lie-kaas) und [Mads Mikkelsen](/person/mads-mikkelsen) (spontaner Beifall in der Pressevorführung bei der Einblendung seines Namens) die Hauptrollen. Diesmal sind sie das unterschiedlichste Brüderpaar, das sich vermutlich selbst Jensen ausdenken kann – was sie eint und für immer zusammenschweißt, ist eine Kindheit in ständiger Angst vor den Launen ihres Vaters. Beide haben einen Knacks. Man kann es ihnen nicht verdenken. Anker ist ein Mann mit irrationalen Aggressionsschüben, sich selbst stets sein größter Feind. Manfred ist ein Kind im Körper eines Mannes, der eine Persönlichkeitsstörung entwickelt hat, die ihn noch lebensunfähiger als seinen Bruder macht und Zuflucht in andere Identitäten finden lässt. Als Anker nach 15 Jahren Haft aus dem Gefängnis entlassen wird, die er wegen eines Raubüberfalls mit Todesfolge verbüßt hat, lebt Manfred in einer Sozialwohnung bei ihrer überforderten Schwester Freja und lässt sich „John“ nennen, weil er sich für John Lennon hält. Spricht man ihn als „Manfred“ an, droht er mit Selbstmord oder stürzt sich spontan aus fahrenden Autos oder Fenstern, egal in welchem Stockwerk er sich gerade aufhält. Fürchterlich traurig und tragisch ist das alles, aber Jensen inszeniert es mit einem Gespür für unerhörte Lacher, wie es nur Filmemachern möglich ist, die verinnerlicht haben, dass das ureigene Wesen des Slapstick endloser Pein entspringt: Wir lachen über die Missgeschicke anderer, weil wir froh sind, dass es uns nicht trifft. Es ist nicht schön, aber das hat eine ungemein reinigende Wirkung.

Die Situation als solche wäre vertrackt genug, wenn Anker die Beute seines Raubzugs vor seiner Verhaftung nicht Manfred anvertraut und ihn angewiesen hätte, sie im Wald neben ihrem Elternhaus zu vergraben und niemandem etwas davon zu erzählen. Nun befinden sich die beiden Brüder auf dem Weg zurück an den Ort, an dem sie gemeinsam in Angst und Schrecken aufgewachsen sind. Unterwegs lesen sie eine Gruppe schräger Gestalten auf, denen ihre Deformation teilweise ins Gesicht geschrieben steht und die allesamt ebenfalls gezeichnet sind von einem Leben, das nicht das bereitgehalten hat, was ihnen versprochen wurde. Die einen sind offenkundig traumatisiert, die anderen haben sich in Selbstbetrug geflüchtet. Um „John“ wieder zu „Manfred“ machen und damit die vergrabene Beute finden zu können, schlägt ein schnell suspekt erscheinender Psychiater Anker vor, andere Patienten mit multipler Persönlichkeitsstörung zu finden, die sich für die fehlenden Mitglieder der Beatles halten und „die Band wieder zusammenzubringen“. Und wenn das verrückt klingt (der Autor hat ungläubig den Kopf geschüttelt und kurz irr aufgelacht, als er es getippt hat), dann sollte man festhalten, dass der Film zu diesem Zeitpunkt vielleicht gerade einmal ein Drittel der Laufzeit hinter sich hat und die wirklich unfassbaren Dinge erst danach passieren. 

Aber wie immer hat der Wahnsinn Methode bei Anders Thomas Jensen. Je mehr er die Insassen die Leitung der Anstalt übernehmen lässt, je surrealer die aberwitzigen Ereignisse scheinen, je entschlossener er Gewalt in die Handlung dringen lässt, je stärker er die Figuren mit ihren emotionalen und psychischen Defiziten konfrontiert, desto tiefer dringt er vor in die Psyche dieser Gruppe von Misfits und Loser, von Außenseitern und Vergessenen, desto größer ist das Herz des Films für sie. Am Schluss ist man erstaunt, wie sehr berührt man ist, wie nahe einem „The Last Viking“ geht. Und wie sehr die Handlung zu tun hat mit der zu Beginn des Films mit Unterstützung einer expressiven Animation erzählten Geschichte eines Wikingerstammes, dessen Häuptling auf den Verlust des Armes seines Sohnes damit reagiert, dass allen im Dorf ebenfalls der Arm abgehackt wird, damit keiner benachteiligt wird. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann hacken sie noch heute. 

~~*Thomas Schultze*~~



REVIEW VENEDIG: „The Last Viking“