Blickpunkt:Film

Festival

Blickpunkt:Film: Ein deutscher Film im Wettbewerb. Sind Frust und Druck jetzt weg?

Christiane Peitz: Natürlich freue ich mich. Wenn es im dritten Jahr hintereinander mit dem Wettbewerb nicht geklappt hätte - im Certain Regard und den Nebenreihen liefen ja deutsche Filme -, hätte ich mich wahrscheinlich gefragt, ob meine Empfehlungen hauptsächlich Alibifunktion haben. Jetzt denke ich, dass ich an den Schrauben vielleicht doch ein wenig mitgedreht habe. Der Kurs des großen, schweren Tankers namens Cannes ändert sich allmählich.

BF: Steht der deutsche Film in Cannes vor einem Neuanfang?

CP: Der Abschied vom Gestern hat in Deutschland ja schon längst begonnen. Es wurde höchste Zeit, dass der Generationenwechsel in Deutschland auch in Frankreich bemerkt wird und Regisseure der Generation [Oskar Roehler](/person/oskar-roehler), [Wolfgang Becker](/person/wolfgang-becker_9) oder [Christian Petzold](/person/christian-petzold) oder Jüngere wie [Hans Weingartner](/person/hans-weingartner) und [Angela Schanelec](/person/angela-schanelec) doch endlich wahrgenommen werden. Mehrere Faktoren spielen da eine Rolle. Mit [Thierry Fremaux](/person/thierry-fremaux) hat ein jüngerer Festivaldirektor das Ruder übernommen. Außerdem gibt es spätestens mit "[Good Bye, Lenin!](/movie/good-bye-lenin)" deutsche Filme, die beim französischen Publikum ankommen. Die deutsche Branche muss nicht dankbar sein, dass sie nach elf Jahren endlich wieder über den roten Teppich laufen darf. Es ist eher umgekehrt: Die Entscheidung, einen Film wie Hans Weingartners "[Die fetten Jahre sind vorbei](/movie/die-fetten-jahre-sind-vorbei)" in den Wettbewerb aufzunehmen, war einfach fällig. Cannes verharrt noch im 20. Jahrhundert und ist neben [Berlin](/company/internationale-filmfestspiele-berlin) und [Venedig](/company/mostra-internazionale-darte-cinematografica) immer noch die gewichtigste, aber auch schwerfälligste Institution.

BF: Nach welchen inhaltlichen oder formalen Kriterien schlagen Sie Filme vor? Inwieweit zählt das Bauchgefühl?

CP: Ohne Bauchgefühl, das heißt ohne Leidenschaft, geht nichts im Kino. Filme, die man weiterreicht, sollten eine gewisse Kraft und Energie ausstrahlen, Temperament haben.

"Generationswechsel wird wahrgenommen"

BF: Erfordert Cannes einen bestimmten "Filmgeschmack"?

CP: Wenn man danach auswählt, was den Franzosen gefallen könnte, gerät man in eine Zwickmühle. Erstens kann ich es nie genau wissen, zweitens befindet sich das Festival zum Glück im Umbruch, will also womöglich gerade nicht mehr Filme im bewährten Festivalstil. Ein Teil meiner Arbeit bestand bislang darin, nicht müde zu werden, zu erklären, dass es ein anderes deutsches Kino gibt als das in den Köpfen der Franzosen. Dem kommt entgegen, dass Thierry Frémaux und seine Auswahlkommission genau darauf inzwischen neugierig sind.

BF: Wie läuft das Auswahlprozedere ab?

CP: Es gibt Produktionslisten. Und es ist halbwegs bekannt, wer welche Filme gerade abgedreht hat. Wenn die Leute sich nicht an mich wenden, gehe ich auf sie zu. Außerdem schaue ich in Saarbrücken oder Hof, was die Jüngeren machen. Im Durchschnitt sehe ich 40 Filme, von denen ich um die zehn zur Sichtung in Paris weiterempfehle. Niemand ist verpflichtet, über mich einzureichen. Einige Produzenten wählen auf Grund guter Beziehungen zu [Gilles Jacob](/person/gilles-jacob_0) oder Thierry Frémaux auch den direkten Weg. In solchen Fällen bin ich darüber informiert. Manchmal werden die Filme auch so knapp fertig, dass die Zeit zur Vorauswahl nicht mehr reicht.

BF: Wie bei Hans Weingartners "Die fetten Jahren sind vorbei"?

CP: Ja, auch da war es sehr knapp. Aber natürlich hatte ich vermittelt, dass Hans Weingartner zu den interessantesten unter den jungen Regisseuren ge-hört. Die Auswahlkommission wollte seinen neuen Film deshalb ohnehin sehr gern sehen. Da er außerdem einen französischen Weltvertrieb mit Kontakten zum Festival hat, hat es dann kurzfristig noch geklappt.

"Der Kurs des schweren Tankers ändert sich"

BF: Wie sind die Kontakte zur [Export-Union](/company/german-films-service-marketing)?

CP: Wir arbeiten eng zusammen und informieren uns gegenseitig. Ich bin für die ästhetische Beurteilung zuständig, die praktische Seite - wann geht der Film nach Paris, wann gibt es eine Sichtung, sei es als Avid-Ausspielung oder schon als 35-Millimter-Kopie - erledigt die ExU.

BF: Ist Cannes noch so etwas wie der Stachel im Fleisch der deutschen Filmwirtschaft?

CP: Diese Fixierung auf Cannes ist seit einigen Jahren vorbei. Es gibt ein neues Selbstbewusstsein und eine neue Vielfalt im deutschen Film. Das "deutsche Problem" gibt es in diesem Sinn eigentlich gar nicht, das "alte" Cannes hat ein Problem als Ganzes. Entweder ändert dieses Festival seinen Kurs oder es riskiert, dass die Berlinale ihm den Rang abläuft. Nichts gegen hochkarätige Stammkundschaft an der Croisette wie [Loach](/person/ken-loach), [Leigh](/person/mike-leigh) oder [Lynch](/person/david-lynch), Kiorastami, die Coen-Brüder oder [Wong Kar-wai](/person/wong-kar-wai). Aber ein paar Abonnements sind jetzt gekündigt, und das finde ich gut. Es bewegt sich was, es gibt womöglich einen neuen Schwung.

Christiane Peitz schlägt deutsche Filme für Cannes vor