Blickpunkt:Film

Reviews

Überraschendes Musical über die Begründerin der religiösen Gruppierung der Shaker.

Wunder geschehen in „The Testament of Ann Lee“. Man glaubt sie, weil der Film selbst ein kleines Wunder ist, der dritte Spielfilm von [Mona Fastvold](/person/mona-fastvold), ihre erste Arbeit seit „[The World to Come](/movie/the-world-to-come)“, den sie 2020 ebenfalls im Wettbewerb von Venedig vorgestellt hatte. Staunend sieht man zu, fassungslos bisweilen und mit wachsender Faszination, weil man – wie auch immer man zu dem Film stehen mag – so etwas noch nie gesehen hat: transzendentales Kino als Musical, nein, falsch: als Singspiel voller devoter frommer Hymnen, bearbeitet und neu geformt und modernisiert von Daniel Blumberg, der schon im vergangenen Jahr musikalisch Übermenschliches geleistet hatte bei dem von Fastvold mitgeschriebenen „Der Brutalist“, inszeniert von ihrem Lebensgefährten Brady Corbet, Partner und partner in crime, Ko-Drehbuchautor von „The Testament of Ann Lee“. 

Spannung liegt auf diese Weise in der Luft, ein fortwährendes Flirren und Sirren, rhythmisches Atmen und bimmelnde Glöcklein, das anhebt zu den Liedern, sich verdichtet zu den Choreographien, die kommentieren, die einzelnen Kapitel abschließen oder unmittelbar in die Handlung eingebettet sind. Es ist eine ungewöhnliche, immersive Form für eine filmische Biographie, die Geschichte der Begründerin der religiösen Gemeinschaft der United Society of Believers in Christ’s Second Appearing, besser bekannt als die Shakers. Ihren Namen erhielten sie aufgrund der ekstatischen Gottesdienste, in die sich die Mitglieder der Gemeinschaft wie in Trance hineinsteigerten, dass sie am Körper zu zittern begannen, die Gliedmaßen wild schüttelten, in konvulsivische Zuckungen verfielen. Dieses physische Empfinden der Anwesenheit Gottes, als würde sein Geist ihre Körper durchfahren, bildet die Grundlage für die Gruppentänze, die „The Testament of Ann Lee“ zu einem Filmerlebnis diesseits gängiger Erfahrung machen: Man kann nicht anders, als elektrisiert zu sein von diesen Sequenzen: als würden Carl Theodor Dreyer und Stanley Donen zusammenfinden, das Tanztheater einer Pina Bausch als historisches Re-Enactment. Besonders das Lied während der Überfahrt von England nach Amerika, dessen sensationell kunstvoller Schnitt (Pablo Larraíns Editorin Sofía Subercaseaux) alle vier Jahreszeiten überbrückt, ist wie Manna. 

In drei Kapitel unterteilt Mona Fastvold ihren Film: This is a song of a GIRL, of a WOMAN, of a MOTHER, eine logische und zwingende Steigerung, in der von der Gottwerdung der Hauptfigur erzählt wird mit den Mitteln des Kinos, was manche anmaßend und prätentiös empfinden werden und deshalb ablehnen, andere wiederum ebenso als anmaßend und prätentiös empfinden und genau deshalb feiern werden. Weil Kunst manchmal eben so sein muss, wenn sie neue Wege gehen will, wenn sie einen Weg finden will, ihre Mittel zu transzendieren, eine Erfahrung diesseits des Alltäglichen zu bieten. Mona Fastvold lehnt sich weit aus dem Fenster. Was sie dabei aber entdeckt und sieht und spürt, ist wunderbar und einzigartig, eine große Provokation, in der nicht nur wiederholt behauptet wird, Gott sei männlich und weiblich, sondern die auch den Beweis für diese Behauptung anzutreten versucht, in evokativen, auf 65mm-Film festgehaltenen Bildern von Kameramann William Rexer, mit dem die Regisseurin erstmals bei den Serien „The Crowded Room“ und „Long Bright River“ zusammengearbeitet hat und der sich als Alchemist für Kinobilder erweist. 

Die Lebensgeschichte von Ann Lee ist nicht schön. Sie wächst im frühen 18. Jahrhundert in Manchester unter einem strengen Vater Seite an Seite mit ihrem Bruder William auf, wird geschlagen und für Kinderarbeit eingesetzt. Als junge Frau bekommt sie vier Kinder, keines davon wird ein Jahr alt. Sie steigert sich in ihre Religiosität hinein, lehnt fleischliche Lust ab und findet ihre Erfüllung als Leitfigur ihrer religiösen Gemeinschaft, die sie nach Amerika führt, wo sie nördlich von New York ihre Kirche errichtet, nur um als weiblicher Anführer von der Männergesellschaft geächtet und bestraft zu werden. Ann Lee wird gespielt von Amanda Seyfried, die sich in dieser Rolle veräußert, wie man das von einem lupenreinen Hollywoodstar wohl niemals erwarten würde, aber auch in den extremsten, erniedrgisten Momenten nie ihre Würde und Gnade verliert, ihre strahlende Schönheit. Singen kann sie auch noch. Und tanzen auch. An ihrer Seite spielen Thomasin McKenzie, Lewis Pullman, Christopher Abbott, Tim Blake Nelson und Stacy Martin.

Wie schon „Der Brutalist“ kann es kein einfacher Dreh gewesen sein. 45 (!!!) gelistete Produzenten mögen Bestätigung genug für diese Behauptung sein. Aber auch hier spiegeln Thema und Handlung die Arbeit an diesem Film, eine Arbeit aus Liebe und Leidenschaft, die ihre Intensität nur durch Selbstaufgabe und Entbehrung erhalten konnte, Filmemachen als spirituelle Mission, eine Form der persönlichen Selbstgeißelung, auch das eine Parallele zu Dreyer, dessen „Die Passion von Johanna von Orleans“ ein offenkundiges Vorbild ist, sich aber auch „Tage des Zorns“ und „Das Wort“ in Spurenelementen wiederfinden. Die Hingabe der Hauptfigur spiegelt sich in der Regisseurin und umgekehrt. Das Ergebnis ist ein Film, der ein kleines Wunder ist und dessen großartige Lieder noch lange nachhallen, nachdem man das Kino verlassen hat, als kleine Erschütterungen, die den Körper durchzucken. 

Thomas Schultze



REVIEW VENEDIG: „The Testament of Ann Lee“