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Oscar-Gewinner und „[Anora](/movie/anora)“-Regisseur [Sean Baker](/person/sean-baker) ist zurück – zumindest ein bisschen. Denn zu behaupten, „Left-Handed Girl“ trage nicht die Handschrift des Ausnahme-Indie-Regisseurs, wäre schlicht gelogen. Schon zum fünften Mal arbeiten [Shih-Ching Tsou](/person/tsou-shih-ching) und Baker zusammen. Bisher war Tsou vor allem als Produzentin und Kostümdesignerin an Bakers Sets beteiligt. Wie schon bei ihrem gemeinsamen Regiedebüt „[Take Out](/movie/take-out)“ (2004) produzierte Baker auch „Left-Handed Girl“ mit und steuerte zudem Teile des Drehbuchs sowie den Schnitt bei.

Und das sieht man dem Sozialdrama in jeder Pore an. Das Sujet könnte kaum „Baker-esquer“ sein: „Left-Handed Girl“ betrachtet eine taiwanesische Familie über vier Generationen hinweg. Im Zentrum stehen Shu-Fenn, ihre Tochter I-Ann und das jüngste Familienmitglied I-Jing. Shu-Fenn versucht ihren Nudelsuppenladen in Taipeh am Leben zu halten, kämpft jedoch mit massiven finanziellen Problemen. I-Ann hilft der Mutter aus, arbeitet aber gleichzeitig in einem Laden, dessen Chef sie für sexuelle Gefälligkeiten ausnutzt. Im Laufe des Films erfährt sie, dass dieser Boss sie geschwängert hat – und verheiratet ist. Den größten Teil der Handlung trägt jedoch I-Jing, gespielt von Nachwuchsschauspielerin Nina Ye. Sie versucht, den beiden anderen in ihren Nöten beizustehen. Als ihr Großvater ihr zudem einredet, sie sei vom Teufel verflucht, weil sie Linkshänderin ist, fühlt sie sich erst recht verpflichtet, jegliche „Schuld“ wieder gutzumachen.

![„Left-Handed Girl“ geht für Taiwan ins Oscarrennen (Credit: Netflix)](https://s3.eu-central-1.amazonaws.com/zone.busch.store.image/443ef91c-347c-48d0-97e9-9400cefeff29.jpg)


Stilistisch erinnert „Left-Handed Girl“ deutlich an Bakers Frühwerk „[Tangerine](/movie/tangerine)“, was vor allem daran liegt, dass auch die taiwanesische Oscar-Einreichung auf einem iPhone gedreht wurde. Tsou nutzt das Format für sehr intime Nahaufnahmen, die den Stress und die Überforderung ihrer Figuren präzise einfangen. Die Frauen in „Left-Handed Girl“ erscheinen dabei teilweise noch unfreier als etwa die Mutter in „[The Florida Project](/movie/the-florida-project)“ – vor allem, weil ihre Handlungsmöglichkeiten stark vom Ehrbegriff der Familie beeinflusst werden. Shu-Fenn hat einen Bruder und eine Schwester: Nach traditionellem chinesischem Erbrecht erbt der Bruder das gesamte Haus, die Schwester lebt weiterhin bei den Eltern. Als einzige Selbstständige fehlt Shu-Fenn das familiäre Auffangnetz – zumal sie bereits verheiratet war und ihr Ex-Mann mit der Mitgift verschwunden ist. Dennoch versucht sie, sich eine eigene Existenz aufzubauen. Offensichtlich bleibt jedoch, dass sie ihre finanziell prekären Verhältnisse an I-Ann und I-Jing weitergegeben hat. I-Ann sucht Schutz bei Männern, die sie im Gegenzug sexuell abhängig machen. I-Jing fehlt Verständnis für Geld, erkennt aber das Leid ihrer Mutter – und beginnt deshalb zu stehlen. Nina Ye verleiht I-Jing eine charmante Leichtfüßigkeit, die dem schweren Stoff etwas Humor entlockt. So trägt das Mädchen etwa dauerhaft einen rosa Handschuh, nachdem ihr illegal gehaltenes Erdmännchen einem geworfenen Ball hinterherspringt und dabei einen Verkehrsunfall verursacht.

Trotz solcher Momente bleibt Stress das dominierende Gefühl, das „Left-Handed Girl“ im Publikum erzeugt. Dazu trägt Bakers erratischer Schnitt bei, der immer wieder zwischen den drei Protagonistinnen springt, deren Situationen von Minute zu Minute aussichtsloser erscheinen. Typisch für Bakers Drehbücher ist allerdings auch der kleine Hoffnungsschimmer, den er seinen Figuren lässt. Sein sozialer Realismus kennt keine völlig trostlosen Welten; auch am untersten Ende der Gesellschaft leben echte Menschen mit Trauer und Freude. So wirkt das heiterere Ende nach dem großen Knall zwar leicht ironisch, doch es macht deutlich: Das Leben geht weiter – vor allem dann, wenn die Familie in die Ferne rückt und Eskapismus den drei zentralen Figuren zumindest eine kurze Pause von ihrem Elend gönnt.

Was man sich von „Left-Handed Girl“ dennoch gewünscht hätte, wäre eine deutlichere eigene Handschrift der Regisseurin. Ja, Tsou arbeitet wirkungsvoll mit neonfarbenen Unschärfen der iPhone-Kamera – der Eindruck bleibt dennoch: Irgendwie ist „Left-Handed Girl“ so etwas wie „The Florida Project“ auf Taiwanesisch. Das macht den Film keineswegs schlecht, doch mehr Eigenständigkeit wäre wünschenswert gewesen.

Der Erfolg bei internationalen Festivals und Preisverleihungen hat unter diesem Eindruck allerdings nicht gelitten. Tsou wurde in der Semaine de la Critique in Cannes mit dem Distribution Award ausgezeichnet; es folgten Preise in Rom und Stockholm. Tsou hat zweifellos eine Zukunft als Regisseurin. Ihr nächster Film sollte jedoch zeigen, dass sie einer Produktion auch eine ganz eigene Vision verleihen kann.

REVIEW STREAMING: „Left-Handed Girl“