Blickpunkt:Film

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Mit weit aufgerissenen Augen starrt Osvald Gurevicius (Marius Repšys) in die Kamera, springt auf und ab – dann läuft der litauische Bär, wie ihn der Kommentator nennt, in die MMA-Kampfarena ein. Nach nur wenigen Sekunden ist sein Gegner K.O.

Schnitt.

Von diesem Triumph ist in der nächsten Szene nichts zu spüren, Osvald liegt im schummrigen Licht auf den Sitzen einer Tram, ohne eine Menschenseele um ihn herum. Die Tage seines Erfolgs sind vorbei, nachdem er während einer Prügelei versehentlich eine Frau geschlagen hat. Stattdessen besteht sein Alltag nun aus Gruppentherapie, sowie dem Coaching von Jugendlichen. Unterschlupf findet er bei seinem Freund Ju-Long, der ein taiwanesisches Restaurant besitzt, allerdings mit seinen ganz eigenen Problemen zu kämpfen hat, als er seine Schulden bei der lokalen Mafia nicht bezahlen kann.

Ein gefallener Kämpfer als Hauptfigur – normalerweise wäre hier zu erwarten, dass der restliche Film sich um seinen Wiederaufstieg dreht, seinen Kampf zurück an die Spitze. Doch sieht man Osvald nach der Eröffnungsszene nur noch um Ring, um die neue Generation zu trainieren. „China Sea“ ist kein Film über Aufstieg, Fall und Wiederaufstieg, stattdessen handelt es sich um ein düsteres Drama über einen Mann, der einfach nur versucht, sein Leben weiterzuführen. Das Einzige gegen das der Protagonist kämpft, sind der Drang nach Gewalt und der Kreislauf toxischer Männlichkeit. [Marius Repšys](/person/marius-repsys) nimmt man in jeder Szene ab, dass hier ein Mensch vor der Kamera steht, dem die Lust nach Blut und Gewalt durch die Adern fließt, der aber dennoch durch das Spiel von Repšys auch zerbrechlich wirkt, ein Zerrissener, dem man ein besseres Leben inständigst wünscht. Er nimmt einen Hund bei sich auf, um den er sich liebevoll kümmert, ermutigt eine junge Kämpferin, nähert sich vorsichtig einer Frau aus seiner Gruppentherapie an… Und doch droht all das zu jeder Sekunde wegzubrechen. Wenig überraschen dürfte es hier, dass das Drehbuch von [Saulė Bliuvaitė](/person/saule-bliuvaite) stammt, Regisseurin und Autorin des nicht minder trostlosten [„Toxic“](/movie/akiplesa), der den Goldenen Leoparden in Locarno gewinnen konnte.   

Die unterschiedlichen Storystränge wollen nicht immer so ganz zusammenpassen, insbesondere die Geschichte rund um Ju-Long rückt dann doch sehr in den Hintergrund, obwohl diese mit ihren Thematiken rund um Kriminalität und den Verrat der eigenen Familie einen eigenen Film füllen könnte. Auch andere Aspekte wie Osvalds Beziehung zu Skaiste, der Frau aus seiner Gruppentherapie, werden eher angeschnitten als vollständig ausgeführt. Andererseits ist diese beinahe fragmentierte Erzählweise durchaus passend gewählt, schließlich ist das Leben nicht immer in gleichmäßig aufgeteilte Handlungsstränge untergliedert. Durch all diese Fragmente hindurch versuchen die Figuren die „andere Seite“, von der Ju-Long in einer Szene spricht, zu erreichen, auf der ein besseres Leben wartet. Doch wirklich hoffnungsvoll mutet „China Sea“ nie an, was sich auch in der Bildgestaltung niederschlägt, die die Szenen nur in gedimmtes, oft bläuliches oder grünliches Licht taucht. Seinen erst zweiten Spielfilm präsentiert Jurgis Matulevičius hier, und weiß doch schon ganz genau, wie man ein atmosphärisches, düsteres Drama kreiert, das zeigt, wie schwierig der Kampf gegen die eigenen Dämonen ist.

Lea Morgenstern

REVIEW TALLINN: „China Sea“