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Beklemmende Chronik des Erwachsenwerdens eines 13-Jährigen in Budapest ein Jahr nach Niederschlagung des Volksaufstands

Niemand würde vom Regisseur von „[Son of Saul](/movie/son-of-saul)“ leichte Unterhaltung erwarten. Mit „Orphan“ bleibt sich [László Nemes](/person/laszlo-nemes) treu. Auch die dritte Regiearbeit des ungarischen Filmemachers, nach „[Sunset](/movie/sunset_c)“ aus dem Jahr 2018 – damals eine Enttäuschung – der zweite Film von ihm im Wettbewerb der Biennale Cinema, ist angesiedelt rund um ein entscheidendes historisches Ereignis des 20. Jahrhunderts: Nach dem Zweiten Weltkrieg in „Son of Saul“ und dem Ersten Weltkrieg in „Sunset“ ist es hier der Ungarische Volksaufstand von 1956, brutal niedergeschlagen von der sowjetischen Besatzungsmacht, der zwar nicht direkt thematisiert wird, aber doch maßgeblich ist für die Geschichte, die erzählt wird und vor allem, wie sie erzählt wird und sich entwickelt. Aber auch ist der Film auf seine harsche und ungeschminkte Art das Porträt einer Jugend, eines wütenden 13-Jährigen, gar nicht mal so grundlegend anders wie in „Sie küssten und sie schlugen ihn“ oder „Die Einsamkeit des Langstreckenläufers“, die großen Klassiker über geraubte Kindheit und unangepasste Jugendliche, die die Faust am liebsten ständig aus der Tasche kriegen würden, oder andere Hard-Luck-Tales jüngerer Zeit wie „Nil By Mouth“ oder auch „Die Asche meiner Mutter“. Er ist eng verwandt auch mit Joseph Loseys „Der Mittler“, in dem ebenfalls ein Junge im Mittelpunkt von Ereignissen steht, die er mit seiner subjektiven Wahrnehmung eines Kindes nicht versteht oder falsch interpretiert. Nur dass sie hier ganz spezifisch verortet sind und in einem klaren historischen Kontext stehen, eine im Wortsinne pechschwarze Tragödie von Ausmaßen, wie sie sich dem Zusehenden in ihrer fürchterlichen Gänze erst nach und nach offenbaren, Kino des abgeschnürten Atems, Kino des Kloßes im Hals, Kino diesseits der Hoffnung. Wer an Eren Klimov denken muss, liegt nicht falsch.

Um den jüdischen Waisenjungen Andor Hirsch geht es, der die ersten fünf Jahre seines Lebens allein in einem Heim verbringt, wo er 1949 von seiner Mutter Elza abgeholt und nach Budapest gebracht wird. Er wächst auf mit idealisierten Geschichten seines Vaters, der seit Jahren verschollen ist, womöglich als tot gilt, was Andor nicht wahrhaben will. Aber wer hat die Vernichtungslager schon überlebt? Ein Jahr nach dem Volksaufstand ist Budapest eine Stadt, die voller Angst ist vor der unberechenbaren eisernen Faust der Russen. Andor ist jetzt 13 Jahre alt, und seine beste Freundin Sári kümmert sich um ihren nach den Aufständen angeblich geflohenen älteren Bruder Tamasz, der sich seit Monaten mit verletztem Arm und einer eiternden Wunde in einem dunklen Keller versteckt und wegen anhaltender Razzien nicht traut, seine Zuflucht zu verlassen. Sein Schicksal ist sinnbildlich für alle Figuren: Jeder befindet sich in einem finsteren Keller, aus dem es keine Flucht gibt. Die Frage, um die es geht, ist vielmehr, wie man sich mit den Umständen arrangiert, wie man weiterlebt in der Hölle, durchaus eine Verlängerung der Ausgangssituation im Vernichtungscamp in Auschwitz wie in „Son of Saul“.

Für Andor kommt erschwerend hinzu, dass er als jüdischer Junge Mensch zweiter Klasse ist, so sehr er seiner Umwelt auch entgegenbellt, sein Name sei „Hirsch“. Für ihn ist es ein Mantra geworden, eine Überlebensstrategie inmitten der Aussichtslosigkeit. Er klammert sich an den Vater, den er nie kannte. Regelmäßig geht er in den Heizungskeller und spricht mit dem wummernden und keuchenden, wie schwitzenden Wasserboiler, den er als seinen Vater adressiert. Umso verheerender ist für Andor, als ein bulliger, monströs erscheinender Mann immer öfter auf seinem Motorrad erscheint und seiner Mutter den Hof macht, die sich in einem Lebensmittelgeschäft von dessen Inhaber drangsalieren lassen muss, um das nötige Geld zum Überleben zu verdienen. Als sie ihrem Sohn verrät, sie sei während des Kriegs bei diesem Fremden versteckt worden und dass dieser Mann sein tatsächlicher Vater sei, bricht für ihn die Welt zusammen. Und treibt ihn in eine Verzweiflung, die wie in einem Welleneffekt weitere Schicksale besiegelt, auch wenn Andor das nicht bewusst ist.

László Nemesz hat „Orphan“ auf Film gedreht, im beengenden Format von 1,33 zu 1. Die Kamera ist lauernd, sieht oft aus der Entfernung zu, beobachtend, abwartend, meist wie durch schmutziges, verschmiertes Glas gefilmt oder in dunkle Räume hinein, in denen man die Menschen dann nur als schwarze Umrisse wahrnimmt. Es ist nicht schön anzuschauen. Das soll es auch nicht. Das darf es auch nicht in dieser Chronik gelebter Entmenschlichung, in dem das Klammern an jeden noch so kleinen Strohhalm der Hoffnung umsonst ist. Man erlebt die Dinge aus den Augen des 13-jährigen Jungen, der ein unzuverlässiger Erzähler ist. Wer weiß, ob der Mann auf dem Motorrad, der sich als Metzger aus einem kleinen Dorf in der Umgebung entpuppt und sich in das Leben der Familie drängt, wirklich das Monster ist, als der der Junge ihn sieht? Wenn man die Überzeichnung aus der Fantasie von Andor verdrängt, ist der Mann auch der Einzige, der dem Jungen Aufmerksamkeit und einen Hauch von Zuneigung schenkt, der sich um ihn bemüht, ohne allerdings zu ihm durchzudringen. Ein Eigenleben hat in „Orphan“ die Tonspur, in der Nebengeräusche oft zu laut und aggressiv wirken, ein ständiges Keuchen und Schnauben und Quietschen und Dröhnen: eine aus den Fugen geratene Welt, die sich nicht richten lässt, in der man nur hoffen kann, dass Überleben möglich ist. Auf fast unheimliche Weise scheint der Film mit dem letztjährige Venedig-Beitrag „Der Brutalist“ zu kommunizieren, mit dem feinen Unterschied, dass bei Brady Corbet künstlerischer Ausdruck ein Ausweg ist. Hier gibt es nur ein Riesenrad, auf dem sich alles entscheiden wird.

*Thomas Schultze*

REVIEW VENEDIG: „Orphan“