Blickpunkt:Film

Mit „Mr. Scorsese“ liefert [Rebecca Miller](/person/rebecca-miller) ein fünf Episoden umfassendes Porträt des legendären Regisseurs, das am 17. Oktober bei [Apple TV+](/company/apple-tv) erscheint. Im Interview sprach sie über ihre Herangehensweise an das Mammutprojekt und darüber, was sie von [Martin Scorsese](/person/martin-scorsese) gelernt hat.

**Wie sieht Ihre persönliche Beziehung zu Martin Scorseses Filmen aus? Hatten seine Werke einen besonderen Einfluss auf Sie?**

Auf jeden Fall! Ich glaube, der erste Film, den ich von ihm gesehen habe, war [„Goodfellas“](/movie/good-fellas-drei-jahrzehnte-in-der-mafia). Später folgten dann [„Raging Bull“](/movie/wie-ein-wilder-stier) und [„Alice lebt hier nicht mehr“](/movie/alice-lebt-hier-nicht-mehr). Seine großartigen frühen Filme sah ich also nicht, als sie herauskamen, weil ich teils zu jung war. Später war ich Malerin und war weniger auf Filme fokussiert. Mit der Zeit begann ich dann das, was er geschaffen hatte, wirklich wertzuschätzen. Als ich realisierte, dass ich vom Malen zum Filmemachen wechseln wollte, fing ich an seine Filme genauer zu analysieren. Später spielte mein Ehemann [Daniel Day-Lewis](/person/daniel-day-lewis) in [„Gangs of New York“](/movie/gangs-of-new-york) mit und ich durfte Marty kennenlernen und ihn bei der Arbeit beobachten. Als ich meinen Film [„Personal Velocity“](/movie/personal-velocity) drehte, fragte ich ihn nach Filmempfehlungen zum Thema Voice Over und er gab mir einige tolle Empfehlungen. Als er fertig war, sah er sich den Film an und teilte mir seine Gedanken mit – danach schaute er sich alle paar Jahre Filme von mir an und sprach mit mir darüber. Auf eine gewisse Art und Weise war er also ein Mentor für mich.

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**Sie kannten ihn also bereits – wie persönlich war „Mr. Scorsese“ damit für Sie?**

Ich würde sagen, der Film war sehr persönlich für mich. Außerdem war ich sehr interessiert an seiner Spiritualität; insbesondere bezogen auf die Dichotomie zwischen seinem Katholizismus und seinen sehr gewalttätigen Filmen. Ich hatte das Gefühl, dass dieser Aspekt sehr wichtig für seine Reise als Mensch und als Filmemacher war – und genau das interessierte mich. Wenn zwei Dinge nicht zusammenpassen, ist das immer spannend für mich.

**Bedeutet das, dass Sie die Idee für die Dokumentation hatten? Oder kam Apple auf Sie zu?**

Es war so: Mein Produktionspartner Damon Cardasis und ich saßen auf einer Couch und ich sagte zu ihm, dass ich gerne noch eine Dokumentation machen würde. Wir hatten zusammen bereits den Dokumentarfilm „Arthur Miller: Writer“ umgesetzt und mir hatte der Entstehungsprozess sehr viel Spaß gemacht. Damon fragte, um wen es gehen sollte und Martys Name ploppte einfach in meinem Kopf auf. Also riefen wir die Produzentin an, die sich um seine Dokumentationen kümmert, auch wenn ich sicher war, dass irgendjemand bereits an einem großen Film über ihn arbeitete. Aber bis zu dem Zeitpunkt hatte er noch keiner Dokumentation zugestimmt.

**Und bei Ihnen stimmte er dann zu.**

Zunächst sagte Marty, dass ich einen Brief an ihn schreiben sollte, also schrieb ich einen Brief, in dem ich erklärte, was ich vorhatte. Dann wollte er mich treffen und am Ende des Meetings sprach er bereits darüber, wann und wie wir die Dokumentation drehen könnten. Zufällig stand die Pandemie kurz bevor und plötzlich hatte Marty nichts mehr zu tun und saß in seinem Haus fest. Er hatte Zeit für die Dokumentation und ich glaube, er war auch bereit auf sein Leben zurückzublicken, was vorher vielleicht noch nicht der Fall gewesen war. Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Aber ich glaube, es hat auch geholfen, dass er mich bereits kannte und meine Herangehensweise mit dem Thema des Katholizismus interessant fand.

![Archivbild von Robert De Niro und Martin Scorsese (Credit: Apple TV+)](https://s3.eu-central-1.amazonaws.com/zone.busch.store.image/333ac8c9-049a-4d3b-ae7f-543a04adf408.jpg)

**Wie war es, ihn als Regisseur zu inszenieren? Gab es einen Unterschied zu Ihrer sonstigen Arbeit mit Schauspielern?**

Ich habe das gar nicht so gesehen, dass ich ihn inszeniere. Was ich getan habe, war viel eher radikales Zuhören. Ich habe ihm sehr genau zugehört und gleichzeitig natürlich auch immer die Dinge im Auge behalten, die ich ansprechen wollte. Wir haben insgesamt miteinander etwa 20 Stunden über einen Zeitraum von fünf Jahren für „Mr. Scorsese“ gesprochen. Ich hatte eigene Fragen, aber mein Job war es auch, seinen Gedanken zu folgen.

**Martin Scorseses Leben und Werk umspannen mehrere Jahrzehnte. Wie sind Sie an dieses Mammutprojekt herangegangen, wie viel konnten Sie bereits vorausplanen?**

Am Anfang hatte ich nicht einmal ein Drehbuch, sondern nur eine Struktur, die sich mit der Zeit entwickelt hat. Erst einmal habe ich die Archivmaterialien gesammelt, dann habe ich mich mit dem Editor zusammengesetzt. Zuerst dachte ich, das Ganze würde höchstens ein zweistündiger Film werden. Nach etwa einem Jahr realisierte ich, dass das unmöglich sein würde. Seine Kindheit, seine Beziehungen zu seiner Familie und den Nachbarn und auch seine Anfänge als Filmemacher waren so wichtig, dass ich diese Aspekte unmöglich in zehn Minuten abarbeiten konnte. Mit den Produzenten handelte ich dann einen Zweiteiler aus, nur um kurze Zeit später zu sagen „Es kann auch kein Zweiteiler sein“ *(lacht)*. Apple kam an Bord, nachdem wir bereits einige der Interviews geführt hatten, und die Leute dort waren offen dafür, statt einem Film ein fünfstündiges Streaming-Projekt zu machen. 

![Archivbild von Martin Scorsese mit seiner Frau Helen Morris und seiner Tochter Francesca (Credit: Apple TV+)](https://s3.eu-central-1.amazonaws.com/zone.busch.store.image/5bcb4f13-6c2e-441a-aaaa-5c84c17c3c19.jpg)

**Aber selbst fünf Stunden sind so gesehen noch kurz für ein ganzes Leben. Wie findet man das richtige Ende bei einem solchen Projekt?**

So etwas ist niemals beendet. Das ist das beste Porträt, was ich zu diesem Zeitpunkt anfertigen konnte. Aber das Thema dieses Mannes und seiner Kunst lässt Raum für so viel mehr. Und das ist einer der Gründe, warum ich darauf bestehe, es ein Porträt zu nennen. Es ist mein Porträt von ihm, aber „Mr. Scorsese“ ist keine finale, allumfassende Dokumentation. Gleichzeitig wollte ich etwas machen, was nicht nur informativ, sondern auch unterhaltsam ist. Manchmal neigt man bei Menschen, die so viel erreicht haben, zu reinen Auflistungen und das wollte ich nicht. Nicht jeder Film bekommt gleich viel Aufmerksamkeit, weil ich eine Geschichte erzählen wollte, wie der Mann die Filme erschafft und wie die Filme gleichzeitig ihn als Person formen. Die Filme dienen als Katalysator für diese Erzählung – die Werke, die weniger dazu beigetragen haben, so großartig sie sein mögen, hatten einfach weniger Platz in diesem Narrativ. 

**Was haben Sie im Entstehungsprozess über Martin Scorsese gelernt, was Sie überrascht hat?**

Da gibt es so viel, dass ich gar nicht alles aufzählen kann. Ich kannte ihn kaum, als wir anfingen zu drehen – die ganze Serie war eigentlich eine Überraschung für mich. Ich wusste sehr wenig über ihn, was gut war. Dadurch fragte ich nicht nach den Sachen, die ich ohnehin schon wusste, sondern konnte wirklich im jeweiligen Moment sein und ein echtes, neugieriges Gespräch mit ihm führen.

**„Mr. Scorsese“ ist nach „Arthur Miller: Writer“ ihre zweite Dokumentation. Was haben Sie von „Arthur Miller: Writer“ gelernt, was Sie jetzt anwenden konnten?**

Ich habe mit dem gleichen Editor zusammengearbeitet, was natürlich sehr hilfreich war. Und ich glaube, insgesamt habe ich gelernt, was für eine große Freiheit man als Dokumentarfilmer hat. Wir haben auch einiges ausprobiert, zuerst hatte „Mr. Scorsese“ zum Beispiel einen Erzähler. Später haben wir dann das gesamte Projekt noch einmal neu geschnitten, ohne Erzähler. Das war eine große Herausforderung, war aber letztendlich in meinen Augen das Richtige.

![Thelma Schoonmaker, Scorseses langjährige Editorin (Credit: Apple TV+)](https://s3.eu-central-1.amazonaws.com/zone.busch.store.image/1ea5e1f6-454e-4f0f-bf76-0ed33fe6bde2.jpg)

**Gab es noch weitere Herausforderungen, auf die Sie gestoßen sind?**

Es gab unzählige Herausforderungen. Es gab natürlich Dinge, z.B. Interviews, die wir nicht einbauen konnten, auch wenn wir das gerne getan hätten. Wie es oft der Fall ist, beginnt das Projekt mit der Zeit seine eigene Persönlichkeit und seine eigenen Bedürfnisse zu entwickeln, denen man folgen muss. Es sagt einem irgendwann, was es ist und was man tun muss. Manchmal besteht die Herausforderung darin, sich danach zu richten, was der Film oder die Serie benötigt. Eine weitere Herausforderung war die Struktur. Ich hätte niemals gedacht, dass wir erst in Episode 2 über [„Hexenkessel“](/movie/hexenkessel_1) sprechen würden, das hat sich erst mit der Zeit herauskristallisiert.

**Und gerade die Arbeit mit Episoden war für Sie neu, oder?**

Genau, ich bin eigentlich eine Film-Regisseurin und musste erst einmal verstehen, dass jede Folge beinahe ein eigener Film sein muss und gleichzeitig so enden sollte, dass man weiterschauen möchte. Wenn man dann die nächste Episode anfängt, muss man außerdem bedenken, dass nicht alle die Serie in einem Rutsch schauen. Deshalb musste ich einen Weg finden, Dinge noch einmal zu erklären, ohne dass es zu repetitiv wird. Aber auf eine merkwürdige Art war das befreiend, weil ich die Dinge dann auf unterschiedliche Arten erzählen konnte.

**Und es ist immer schön, wenn man sich selbst herausfordern kann, egal wie lange man diesen Job schon macht.**

Absolut, das möchte ich auch für den Rest meiner Karriere tun und das ist auch eine Sache, die Marty mir beigebracht hat: Er ist 82 Jahre alt und fühlt sich wie ein junger Mann, weil er immer weiterarbeitet und sich neuen Herausforderungen stellt. 

![Martin Scorsese im Gespräch mit Rebecca Miller (Credit: Apple TV+)](https://s3.eu-central-1.amazonaws.com/zone.busch.store.image/cbd1b34c-09cf-4678-87ce-6fa067cee120.jpg)

**Sie haben aber natürlich nicht nur Martin Scorsese interviewt, sondern auch Wegbegleiter, Freunde etc. Gleichzeitig sind auch Personen zu sehen, mit denen er nie gearbeitet hat, etwa [Ari Aster](/person/ari-aster) oder [Benny Safdie](/person/ben-safdie). Wie haben Sie die Interviewpartner ausgewählt?**

Ich habe die Menschen, mit denen ich gesprochen habe, mit viel Bedacht ausgewählt. Über Ari Aster hatte mir Marty beispielsweise erzählt, dass er eine sehr interessante Lesart zu [„Silence“](/movie/silence_5) hat. Dieser spezielle Film wurde von Experten und Kritikern eher zurückgewiesen, deshalb brauchte ich jemanden, der auf den Film als Filmschaffender blickt. Und die Safdies hatten schon bei Criterion über seine frühen Filme, besonders die Kurzfilme, gesprochen und sie hatten so eine tolle, dynamische Art darüber zu reden, dass ich sie unbedingt für meine Dokumentation wollte. Und natürlich wollte ich seine Familie interviewen, gerade die Frauen in seinem Leben, weil man dadurch noch einmal mehr über ihn lernt. Es war klar, dass ich auch seine Wegbegleiter aus der Branche interviewen würde, aber ich wollte nicht nur lauter berühmte Talking Heads zeigen. Ich bin tatsächlich interessierter an diesen Menschen, die in seiner Nachbarschaft lebten und auf denen einige seiner Figuren basieren.

**Sie haben gesagt, dass die Produktion von „Mr. Scorsese“ eine der prägendsten Erfahrungen für Sie als Filmemacherin war. Was hat diese Erfahrung für Sie so besonders gemacht?**

Einfach so viel Zeit mit ihm in einem Raum zu verbringen, Stunden mit ihm über seine und andere Filme zu sprechen. Zeit mit diesem großartigen Mann zu verbringen, der das Kino geprägt hat und weiterhin so jugendlich, aber manchmal auch nervös oder ängstlich ist, wie ein junger Filmschaffender. Es war ein großes Privileg – als ich zuerst danach fragte, diese Dokumentation machen zu dürfen, habe ich nicht realisiert, was für eine tolle Erfahrung das sein würde. Ich bin einfach dankbar, dass ich diese Erfahrung jetzt mit dem Publikum teilen darf.

*Das Gespräch führte Lea Morgenstern.*

Rebecca Miller zu „Mr. Scorsese”: „Was ich getan habe, war radikales Zuhören“