Blickpunkt:Film

Kino

Bereits zum vierten Mal kuratiert [Nikolaj Nikitin](/person/nikolaj-nikitin) in diesem Jahr den Wettbewerb „Critics’ Picks“ beim [Tallinn Black Nights Film Festival](/company/tallinn-black-nights-film-festival). Daneben ist er unter anderem Leiter des Palic Film Festival und Ko-Leiter des Kinofest Lünen. Wir sprachen mit ihm über die diesjährige Filmauswahl in Tallinn.

**Im vergangenen Jahr sagten Sie, die Filmauswahl fiel Ihnen schwerer als in den beiden Vorjahren. Wie lief die Kuration in diesem Jahr ab?**

**Nikolaj Nikitin:** Man sagt immer, dass der aktuelle Jahrgang der beste und spannendste ist. Der letzte Jahrgang war wirklich großartig, aber dieser Jahrgang ist sogar noch stärker. Ich kuratiere die Critics‘ Picks jetzt das vierte Jahr in Folge und merke, dass die Konzeption und Idee der Critics‘ Picks als offizielle Sektion beim Tallinn Black Nights Film Festival in den Köpfen der Branche und der Besucher gut verankert sind. Viele Filmemacher und Rechteinhaber treten nun direkt an uns heran und möchten ihre Filme in dieser Sektion zeigen. Wie sich die Reihe entwickelt, hätte ich mir nie erträumen können. Dieses Jahr haben wir auch einen Film, in dem ein echter Weltklasse-Star (ein sogenannter A-Lister) dabei ist, und einen anderen Film, hinter dem ein sehr großer Weltvertrieb steht. Dass wir diese Filme bekommen haben, ist wirklich großartig – zumal alle zehn Titel Weltpremieren sind!

**Worauf achten Sie bei der Auswahl besonders: Ländervielfalt, Diversität in den Filmen oder etwas ganz anderes?**

**Nikolaj Nikitin:** Ich bin sehr dankbar, dass die Auswahl eine große geografische Diversität bietet. Es war mir von Anfang an wichtig, dass ich die Chance habe, die Kinematografie der ganzen Welt abzubilden. Wir bekommen fürs ganze Festival 1900 Langfilme angeboten, über 5600 Kurzfilme und etwa 433 Kinderfilme, und das, was für mich infrage kommt, sind etwa 1.000 Filme. Ein Prozent davon schafft es dann in die Critics‘ Picks. Dieses Jahr haben wir zwei argentinische Filme, was mich freut, weil mir lateinamerikanisches Kino sehr am Herzen liegt. Ich bin außerdem sehr stolz, dass Asien gut vertreten ist, mit einem taiwanesischen Film und einer litauisch-taiwanesischen Koproduktion. Mexiko ist genauso abgedeckt, wie der Iran und Tunesien, in Koproduktion mit Saudi-Arabien, Katar und Zypern. Zusätzlich sind auch Frankreich, Belgien und Kanada mit dabei. Ganz besonders gefreut hat mich, dass ich mit „Mo Papa“ einen estnischen Film für die Sektion als Eröffnungsfilm finden konnte. Die Regisseurin zeigte bereits ihr Debüt „Mo Mamma“ vor zwei Jahren sehr erfolgreich bei uns und hat den Special Jury Prize gewonnen.  Inspiriert von der  Dogma95-Bewegung hat sie mit ihrem Team ihr eigenes „Mo-Movement“ gegründet und stellt gerade den vierten Teil fertig.

![„Mo Papa“ (Credit: PÖFF)](https://s3.eu-central-1.amazonaws.com/zone.busch.store.image/1b1add91-a072-4385-8a96-00804977b2d7.jpg)

**Gibt es noch weitere Kriterien oder Aspekte, auf die Sie achten?**

**Nikolaj Nikitin:** Ich muss sagen, ich liebe nichts mehr als einen gut gemachten Genrefilm, der unterhält, aber auch zum Nachdenken anregt – bestes Beispiel dafür ist aktuell „One Battle After Another“. Diese üben ganz oft unter dem Deckmantel des Thrillers, Gangsterfilms etc. politische Kritik am System. Ich finde es sehr schön und bereichernd, zu sehen, dass Genrefilme auch immer noch von jungen Regisseuren gemacht werden. Ein Paradebeispiel dafür ist der litauische Film „China Sea“, während der iranische Film, „Oh, What Happy Days!“ mit den Konventionen des Filmemachens bricht. Der Filmemacher bezeichnete die Arbeit daran als Kofferfilm-Methode, weil die Mitwirkenden (u.a. [Golshifteh Farahani](/person/golshifteh-farahani), [Shirin Neshat](/person/shirin-neshat) und die Legende [Ali Nasirian](/person/ali-nassirian)) des iranischen Kinos teils im Iran und teils in anderen Ländern waren und der Film deshalb wie eine Zoom-Konferenz gebaut ist. Gleichzeitig ist er ein gutes Beispiel für einen Festivalfilm, der dann auch im Kino ausgewertet werden kann. Vor vielen Jahren, als ich anfing, in der Branche zu arbeiten, liefen in den deutschen Kinos noch viel mehr europäische Werke bzw. Weltkino. Deshalb sehe ich die Bedeutung von Festivals heute noch viel stärker als früher. Dadurch finden Filme, die ohne Vertrieb bzw. Verleih bei uns laufen, oft ein Zuhause bei einem Sales und danach zahlreiche Verleiher. Außerdem ist es uns sehr wichtig, dass wir auch eine starke Industry-Seite haben, bei der Sales und Verleiher kommen, um sich die ausgewählten Filme anzuschauen. Aber selbst wenn manchmal ein Titel keinen Sales/Verleiher findet, so wird er dank eines erfolgreichen „Festival-Runs“ weltweit gesehen, was für unsere Arbeit das Allerwichtigste ist.

![„Oh, What Happy Days!“ (Credit: PÖFF)](https://s3.eu-central-1.amazonaws.com/zone.busch.store.image/c8aa6950-1b7b-4a90-8f27-7eed1d26bfbc.jpg)

**Sind Ihnen bei der Filmauswahl dieses Jahr bestimmte Trends oder Themen aufgefallen?**

**Nikolaj Nikitin:** Eine Tatsache ist mir tatsächlich aufgefallen: Mir war sehr daran gelegen, eine schwarze Komödie zu finden, die unsere Welt darstellt, wie sie ist, und dabei die komödiantische Form findet – wie so viele Klassiker, die wir alle lieben. Aber es gab leider keine überzeugende Komödie. Das fand ich sehr interessant, denn ich habe mich gefragt, ob die Weltsituation so schwer ist, dass den Filmemachern wirklich nicht nach Lachen zumute ist. Oder vielleicht brauchen sie einfach noch ein bisschen mehr Zeit. Es ist ein ernsthafterer Jahrgang, aber dabei auch ein starker Genrejahrgang, der viel verspielter ist. Außerdem werden die Filmemacher viel persönlicher in ihren Filmen und verarbeiten Erlebnisse, die sie selbst geprägt haben. Es gibt Filme, die sich mit marginalisierten Gruppen beschäftigen, etwa das Debüt „Invisibles“ aus Kanada. Der ist wahnsinnig stark, denn es geht darin um Sexarbeiterinnen, die mit Menschen mit Behinderung Sex haben. Das fand ich einen sehr mutigen Film, dem man angemerkt hat, dass die Filmemacherin fast zehn Jahre dafür recherchiert hat. Ich habe das Gefühl, dass international der Mut wieder größer geworden ist, was die Filme für das Publikum auch wieder spannender macht. Die Filmemacherin ist direkt nach der Weltpremiere bei uns nach Kanada geflogen und hat in ihrer Heimat Montreal gleich zwei wichtige Preise gewonnen (Bester Film und Beste Regie), was uns sehr gefreut hat. Überhaupt sind in den Critics‘ Picks und in unserem Haupt-Wettbewerb dieses Jahr sehr viele Filme, die direkt nach uns bei bedeutenden (A)-Festivals laufen…

![„Invisibles“ (Credit: PÖFF)](https://s3.eu-central-1.amazonaws.com/zone.busch.store.image/d76e124c-7cc4-4501-b038-6f6cd0255b28.jpg)

**Spiegelt sich dieser Mut abgesehen von den Themen auch stilistisch wider?**

**Nikolaj Nikitin:** Ja, absolut. Aus Argentinien zeigen wir „A Summer Tale“, der mich stark an [„Dead Man“](/movie/dead-man) von [Jim Jarmusch](/person/jim-jarmusch) erinnert hat. Da geht es um einen Street-Hustler in Buenos Aires, der ständig seinem Geld hinterherrennt; der hat eine wahnsinnige Dynamik. Es ist spannend zu sehen, wie sehr die Filmemacher ihren Schauspielern und ihrer Art, Filme zu machen, vertrauen. Ich dachte die ganze Zeit, ich sähe einen jungen [De Niro](/person/robert-de-niro) in einem mir unbekannten [Scorsese](/person/martin-scorsese)-Film 😉 Sie glauben an sich und haben den Mut, auch mit geringen Mitteln zu arbeiten. Auch der Beitrag „That Burning House“ aus Taiwan vertraut sehr seinen jungen Darstellerinnen.

**2024 zeigten Sie erstmals einen Film aus Bhutan und meinten, Sie seien besonders gespannt, wie die Zuschauer darauf reagieren. Gab es dieses Jahr ein Werk, bei dem Sie ebenfalls besonders gespannt auf die Reaktionen waren?**

**Nikolaj Nikitin:** Noch mal als Nachklapp zu Bhutan: Ich bin sehr happy, dass dieser Film jetzt von Bhutan zu den Oscars geschickt wird und die Regisseurin Dechen Roder – als Vorjahressiegerin für die Beste Regie – die Einladung angenommen hat, gemeinsam mit Jean-Baptiste Babin und Thomas Schultze bei uns in der Jury zu sitzen. Abgesehen davon hat mich natürlich als Nicht-Este sehr interessiert, wie die Menschen hier den estnischen Beitrag annehmen. Aber jedes Screening ist fantastisch – die Tatsache, dass ich hier jedes Jahr zehn Weltpremieren zeigen kann, freut mich wahnsinnig. Dadurch, dass es so eine konzentrierte Anzahl ist, bekommt jeder Film die Aufmerksamkeit, die er verdient. Wir bekommen hier Filme, die auch bei anderen A-Festivals laufen könnten, aber sie kommen zu uns. Der litauische Regisseur Jurgis Matulevičius von „China Sea“ hatte beispielsweise zuvor „Isaac“ gedreht, der sehr erfolgreich war, und präsentiert seinen neuen Film jetzt bei uns – die Drehbuchautorin des Films hat mit ihrem einprägsamen Debüt [„Toxic“](/movie/akiplesa) Locarno gewonnen. Die Branche merkt, glaube ich, dass in Tallinn sehr viel Herzblut und Filmwissen hinter der Auswahl steckt, und alle unsere Gäste verlassen uns stets glücklich und mit sehr warmen Erinnerungen – auch an das legendäre kalte „Eisbaden“ 😉

![„China Sea“ (Credit: PÖFF)](https://s3.eu-central-1.amazonaws.com/zone.busch.store.image/95a2445e-8eef-4a3c-8508-fe65ff153baf.jpg)

**Wie sehen Sie das deutsche Kino in diesem Jahr in Tallinn vertreten?**

**Nikolaj Nikitin:** Wir haben eine sehr enge Bindung zu Deutschland. Bevor ich kam, hat Christoph Gröner immer sichergestellt, dass viele deutsche Filme hier laufen. Wir haben außerdem eine wunderbare Zusammenarbeit mit [German Films](/company/german-films-service-marketing), wobei ich insbesondere [Simone Baumann](/person/simone-baumann_2) und [Sylva Häutle](/person/sylva-haeutle) hervorheben möchte, die uns viele deutsche Filme anbieten. Letztes Jahr hatten wir einen deutschen Fokus, allerdings lustigerweise keinen deutschen Film im Wettbewerb, dafür gewannen deutsche Beiträge in zwei anderen Sektionen – [„No Dogs Allowed“](/movie/no-dogs-allowed) von [Steve Bache](/person/steve-bache) bestes Debüt und [Irene von Alberti](/person/irene-von-alberti) mit [„Die geschützten Männer“](/movie/die-geschuetzten-maenner) den Rebels with a Cause Wettbewerb. Dieses Jahr zeigen wir im Wettbewerb [Thomas Stubers](/person/thomas-stuber) [„Der Frosch und das Wasser“](/movie/der-frosch-und-das-wasser_e), der mich sehr an [Aki Kaurismäki](/person/aki-kaurismaeki) erinnert (und ebenfalls von Pandora produziert wurde), den ich persönlich liebe und verehre. Wir freuen uns wahnsinnig, dass wir den als Weltpremiere präsentieren dürfen. Auch in den Nebensektionen sind deutsche Filme vertreten, etwa in der First Feature Competition mit „Interior“ von Pascal Schuh bzw. [„Smalltown Girl“](/movie/ficken-fuer-freiheit) von [Hille Norden](/person/hille-norden). Im Industry-Bereich sind natürlich auch deutsche Projekte dabei. Ich glaube, dass die Reputation von Tallinn im deutschen Markt in den letzten Jahren sehr gewachsen ist, was unter anderem daran liegt, dass wir sehr frei sind in der Programmierung und bei [Tiina Lokk](/person/tiina-lokk), unserer Festivalleiterin, einfach nur die Qualität zählt.

*Das Gespräch führte Lea Morgenstern.*





Nikolaj Nikitin zu den Critics’ Picks auf dem 29. PÖFF: „Ein starker Genrejahrgang“