Blickpunkt:Film

Reviews

Herausragender und eigenwilliger Horrorfilm über das mysteriöse Verschwinden einer gesamten Schulklasse in einer Nacht um 2 Uhr 17.

Als George Harrison den Song „Beware of Darkness“ 1970 für sein epochales Dreifachalbum „All Things Must Pass“ aufnahm, beschrieb er ihn als Ode an die Philosophie des Radhna Krishna Temple, dem er seit 1968 huldigte: Spirituelle Belange haben Vorrang vor allen materiellen Dingen. Andere merkten an, es sei Harrisons direktester Song über die Auswirkungen des Endes der Beatles auf seine Psyche. Man dürfe sich nicht von der Dunkelheit verschlingen lassen. Jetzt eröffnet [Zach Cregger](/person/zach-cregger) seinen zweiten Spielfilm genau mit diesem Song, legt ihn mit seiner träumerischen, andersweltlichen Melodie und Stimmung über die nächtlichen Bilder, hüllt die Kinder einer Schulklasse in einer kleinen allamerikanischen Gemeinde, die um 2 Uhr 17 morgens aufstehen, ihre Kinderzimmer verlassen, die Treppen hinabgehen, aus den Häusern treten und mit ausgebreiteten Armen die Wiesen und Straßen entlanglaufen und spurlos verschwinden, in einen sanften Mantel, unwirklich, unheilvoll, unheimlich, als hätte man ein Märchen der Brüder Grimm in eine amerikanische Jedergemeinde des Hier und Jetzt verlegt. Was für ein Auftakt, welch ein Paukenschlag. 

n den folgenden etwas mehr als zwei Stunden wird es um diesen Augenblick gehen, um diesen einschneidenden Moment, als fast 20 Kinder vom Erdboden verschluckt zu werden scheinen, ein bisschen wie in Peter Weirs unerreichten „Picknick am Valentinstag“, nur dass das Verschwinden in „[Weapons – Die Stunde des Verschwindens](/movie/weapons_5)“ nicht am Ende geschieht, sondern den Film eröffnet, ihn mit purer Dunkelheit beginnen lässt und zum zentralen Ereignis macht. Und um die Erkenntnis, dass die methodische und entschlossene Inszenierung weniger an die Wärme und Empathie Weirs erinnert, sondern an das total cinema eines Stanley Kubrick, ein Uhrwerk Orange, das eine vermeintlich idyllische Gemeinschaft vergiftet, sie zersetzt wie ätzende Säure. Darum entspinnt der Regisseur ein verwegen konstruiertes Epos. Aus sechs Perspektiven setzt sich die Geschichte zusammen, wie einzelne Kapitel, die sich an derselben Zeitlinie entlangbewegen, doch jeweils versetzt voneinander, dass nicht immer gleich klar wird, wie die Sichtweisen zusammenhängen, aber stets so, dass sich nach und nach ein größeres Bild ergibt, sich Themen und Ereignisse verdichten und auf einen Showdown zusteuern, den man gesehen haben muss, um ihn zu glauben, ein Fanal, der dem Titel des Films gerecht wird, dass einem der Atem stockt, eine full metal jacket aus menschlichen Körpern.

„Dies ist eine wahre Geschichte, die in meiner Stadt passiert ist. Dieser eine Mittwoch beginnt wie ein ganz normaler Schultag. Aber heute war es anders. In jeder anderen Klasse waren alle Schüler anwesend. Nur Mrs. Gandys Klassenzimmer blieb vollkommen leer. Und wisst ihr wieso? Weil diese Kinder in der Nacht zuvor genau um 2 Uhr 17 aufgewacht, aufgestanden, nach unten gegangen und in die Dunkelheit verschwunden sind. Und keines von ihnen wurde je wiedergesehen.“ Dies hört man die Stimme eines Jungen zu Beginn des zweiten Trailers sagen und nun auch im fertigen Film. Ein Szenario wie aus einem klassischen Märchen, die verschwundenen Kinder. Hänsel und Gretel, der Rattenfänger von Hameln. Nur dass der Film gleich eine Einschränkung macht, die die unheimlichste aller Vorstellungen gleich noch ein bisschen unheimlicher macht. Es ist eben nicht die ganze Klasse. Ein Junge ist noch da, ein unscheinbarer kleiner Kerl und ein Außenseiter, gehänselt und gepiesackt von den Anderen. Man ahnt, dass er noch in den Mittelpunkt geraten könnte. Das ist naheliegend. Man wird niemals daraufkommen, wie es passieren wird in Zach Creggers verwegener Konstruktion: Schon dessen Debüt „Barbarian“ spielte virtuos mit erzählerischen Mitteln, radikalen tonalen Schwankungen, zog einem den Boden unter den Füßen weg, immer im Dienst sich verdichtender Spannung, ein genussvolles Spiel mit Unsicherheit und Überraschung. Hier potenziert sich sein Ansatz, wird man Zeuge eines Films, der die anderen neuen Architekten des Genres – Osgood Perkins, Coralie Fargeat, Ari Aster, Tilmann Singer – rechts und links überholt und das erste Meisterwerk des New Horror hervorbringt, ein „Shining“ der Gegenwart.

„Weapons“ erzählt von sechs Figuren. Der Lehrerin Justine, gespielt von Julia Garner, die nach dem Verschwinden der Kinder als Hexe angefeindet wird. Dem Vater Archer, gespielt von Josh Brolin, der Justine schuldig macht für das Verschwinden seines Sohnes und so von seinem Schmerz aufgefressen wird, dass er eigene Nachforschungen anstellt. Dem Schuldirektor Andrew, gespielt von Benedict Wong, der versucht, die Wogen zu glätten, alsbald aber Besuch bei sich und seinem Lebensgefährten erhält. Dem Polizisten Paul, gespielt von Alden Ehrenreich, der sich nach einem übergriffigen Vorfall mit einem Obdachlosen in die Ecke gedrängt fühlt. Besagtem kleinkriminellen Drogenabhängigen, gespielt von Austin Abrams, der in einem Zelt im Wald haust, sich mit kleineren Delikten und Diebstählen über Wasser hält und mehr mitbekommt als die braven Bürger in ihren adretten Häuschen. Und dem kleinen Alex, gespielt von Cary Christopher, dem einen Schüler, der nicht spurlos verschwunden ist, der die Geschichte anfangs erzählt und bei dem die Fäden nach und nach zusammenlaufen. Wie gesagt, das Storytelling ist raffiniert und virtuos, aber es ist auch interessant, wie es Zach Cregger gelingt, mit diesen sechs Figuren eine Art Querschnitt der amerikanischen Gesellschaft zu skizzieren, als würde er fünf Staffeln von „The Wire“ auf eine Gruselmär verdichten, die dann noch einen Auftritt von einer nicht wiederzuerkennenden Amy Madigan hat, der selbst Nicolas Cages Galashow in „Longlegs“ in den Schatten stellt. Einen pechschwarzen, tonnenschweren Schatten wohlgemerkt, aus dem die Märchenmotive quillen, als hätte sich in ihm das Tor zur Hölle geöffnet. Und wenn das Glöckchen erklingt, ist alles möglich in diesem grandiosen Fresko des Abgründigen, ein Seherlebnis, wie man es nur ganz selten hat, ein Film, der einem tatsächlich Angst macht. Beware of Darkness. In der Tat. 



REVIEW KINO: „Weapons – Die Stunde des Verschwindens“